Jan Fabel 06 - Tiefenangst
ihnen keiner öffnet. Dabei werden sie von Reisch erwartet. Sie haben sich telefonisch mit ihm verabredet.«
»Das klingt nicht gut, Anna. Reisch ist praktisch ans Haus gefesselt. Nimm einen Streifenwagen mit. Wenn sich niemand meldet, lass die Tür aufbrechen. Ich komme sofort. Besser noch, du wartest, bis ich eintreffe. Und besorg die Nummer seiner Betreuerin. Shit , ich habe ihren Namen vergessen …«
»Rössing … Ich bin schon dabei. Bis gleich.«
26.
Wie sich herausstellte, brauchten sie nicht gewaltsam in Reischs Haus einzudringen. Frau Rössing, seine Betreuerin, erschien, gerade als Fabel eintraf, mit einem Schlüssel. Ihre Miene spiegelte aufrichtige Besorgnis wider. »Heute Morgen ging es ihm noch gut«, sagte sie, während sie sich mit dem Schlüsselbund abmühte.
»Warten Sie hier«, sagte Anna, nachdem Frau Rössing die Tür aufgeschlossen hatte. »Wir müssen als Erste reingehen.«
Sie fanden Reisch genau dort vor, wo Fabel bei seinem letzten Besuch mit ihm gesprochen hatte: Er saß am Tisch und starrte den Bildschirm seines Laptops an. Mit dem Unterschied, dass Reisch den Bildschirm nun durch den durchsichtigen Kunststoff eines Plastikbeutels anstarrte, der seinen Kopf umhüllte und am Hals mit einer Schnur zugebunden war. Der große Beutel blähte sich, als wäre er mit Luft vollgepumpt worden. Fabel musste an einen überdimensionalen Raumfahrerhelm oder an die Haube eines Kontaminationsanzugs denken. Reisch saß immer noch aufrecht da, denn die Nackenstütze seines Rollstuhls hinderte ihn daran, zusammenzusacken.
Fabel presste den Zeigefinger an Reischs Hals, genau unter der Stelle, wo die Schnur fest zusammengezogen worden war. Er schüttelte den Kopf.
»Scheiße …« Anna betrachtete den Toten. »Glaubst du, dass ihn jemand wegen seiner Verbindung zu Virtual Dimension ermordet hat?«
Fabel antwortete nicht, sondern ließ sein Handy aufschnappen und rief das Präsidium an. Er fragte, wer Spurensicherungsdienst habe.
»Lass die Betreuerin nicht rein, Anna«, sagte er leise, nachdem er das Gespräch beendet hatte. »Aber sie soll wissen, dass Reisch verstorben ist. Holger Brauner ist mit seinem Team unterwegs.«
Anna und der Schutzpolizist verließen das Zimmer, und Fabel musterte Reischs Schreibtisch genauer. Auf der Platte lag ein Päckchen, das unordentlich aufgerissen worden war. Daneben stand ein Gefäß, das Fabel an einen kleinen Sauerstoffkanister mit einem daran befestigten Schlauch erinnerte. Er zog einen Latexhandschuh aus seiner Jackentasche und benutzte ihn als Schutz, während er den Kanister auf die andere Seite rollte. Darauf stand das Symbol He . Nicht Sauerstoff, sondern Helium.
Fabel blickte auf den Schirm des Laptops. Während Reisch starb, war er in Virtual Dimension eingeloggt gewesen. Nun wanderte sein Avatar ziellos durch eine surrealistisch-realistische Welt, die aus Computergrafiken bestand. Dies war das Letzte, was sein sterbendes Gehirn wahrgenommen hatte. Selbst jetzt machte Reisch noch den Eindruck eines Mannes, der sein kybernetisches Alter Ego beobachtete.
Nach der Ankunft Brauners und seines Teams ging Fabel zu Anna und dem Schutzpolizisten vor dem Haus. Nach nur fünfzehn Minuten rief Brauner ihn zurück ins Wohnzimmer.
»Diese Sache kannst du vergessen, wenn du mich fragst, Jan«, sagte er. »Natürlich musst du auf die Autopsie warten, aber das hier ist kein Mord. Es ist Selbstmord, und der interessiert dich nicht.«
»Und wer hat ihm den Beutel um den Hals gebunden? Wenn er es selbst getan hätte, dann hätte sein Überlebensinstinkt doch bei den ersten Anzeichen des Erstickens eingesetzt.«
»Nein, Jan. Das ist ein sogenannter Exit-Bag. Teil eines Selbstmordpakets. Die Schnur wird ohne fremde Hilfe zugezogen. Und der ›Überlebensinstinkt‹, von dem du sprichst, wird als hyperkapnische Alarmreaktion bezeichnet. Das ist die Panik, die man empfindet, wenn das CO 2 -Niveau im Blut gefährlich hoch wird und das Gehirn einem befiehlt, rasch wieder zu atmen. Bei ihm war das nicht der Fall. Dazu dient der Kanister: Durch ihn kann man den Beutel oder die Lunge oder beides mit einem Edelgas wie Stickstoff oder Helium füllen. Es verwirrt das Gehirn und schaltet die hyperkapnische Alarmreaktion aus. Man hat das Gefühl, normal zu atmen. Kein Schmerz, keine Panik. Dann wird man bewusstlos und wacht nie wieder auf. Ob du es glaubst oder nicht, man kann Exit-Bags im Internet kaufen oder die Herstellungsanleitung dazu herunterladen. Wir haben das
Weitere Kostenlose Bücher