Jan Fabel 06 - Tiefenangst
Päckchen, mit dem der Beutel geschickt wurde, eingetütet. Vielleicht findest du heraus, wo er ihn bestellt hat. Und vermutlich sind darauf Hinweise zu finden …« Er nickte in Richtung des Laptops auf dem Tisch.
»Du bist also überzeugt, dass es Selbstmord war?«
»Nichts deutet auf etwas anderes hin. Warum war er im Rollstuhl?«
»Motorneuronenkrankheit. Der arme Hund.«
»Dann mache ich ihm keine Vorwürfe. An seiner Stelle würde ich das Gleiche tun, bevor ich nicht mehr dazu in der Lage wäre. Und ehrlich gesagt sind diese Exit-Bags nicht das schlimmste Verfahren, sich zu verabschieden. Allerdings empfiehlt es sich nicht, unterbrochen und gerettet zu werden. Wenn du den Versuch überlebst, ist dein Gehirn nur noch Brei.«
Die Beamtin von Kroegers IT-Team trat ein. Sie hatte sich bei Anna gemeldet und gewartet, während die Spurensicherer ihre Arbeit machten. Zierlich, mit kastanienbraunem, zu einem Pferdeschwanz gebundenem Haar, in Jeans und einer hüftlangen Freizeitjacke, entsprach sie nicht dem Bild einer Polizistin. Sie hätte eher eine Studentin auf dem Weg zur Vorlesung sein können. Etwas an ihr erinnerte Fabel an seine Tochter Gabi, die ebenfalls kastanienbraune Haare hatte und sich überlegte, wie ihr Vater eine Polizeilaufbahn einzuschlagen. Fabel bemerkte, dass die junge Frau sich Mühe gab, den Toten im Rollstuhl nicht anzusehen.
»Alles in Ordnung?«, fragte er.
»Ja, Herr Hauptkommissar. Entschuldigung.« Sie runzelte die Stirn. »Ich hätte gern gewusst, ob wir den Laptop immer noch untersuchen sollen?«
»Natürlich«, sagte Fabel. Er betrachtete erneut den Bildschirm. Thorsten66 , Reischs Avatar, spazierte weiterhin durch die Kunstwelt von New Venice in Virtual Dimension. In einer Ecke des Schirmes, unter dem Foto des muskulösen jungen Mannes, den Reisch gewählt hatte, weil er ihn an sein früheres gesundes Ich erinnerte, erschienen Nachrichten von anderen Benutzern, die Thorsten66 zu Partys an den Lagunen oder zur Teilnahme an den Olympischen Spielen von New Venice einluden. Es war kein Zufall, dass Reisch, während er starb, gerade dieses Bild vor sich gehabt hatte. Vielleicht hatte er wirklich geglaubt, sich im Moment des Todes durch eine Willensanstrengung in jene nachgemachte, doch unendlich angenehmere Realität versetzen zu können.
Die junge Beamtin beugte sich vor, um den Laptop zu schließen und mitzunehmen.
»Lassen Sie ihn stehen«, sagte Fabel. Dann fuhr er mit sanfterer Stimme fort: »Lassen Sie ihn eingeschaltet. Ich bringe ihn in einer Minute nach draußen.«
Auf der Fahrt zum Präsidium blickte Fabel immer wieder in den Rückspiegel. Da ihm kein VW-Geländewagen mehr zu folgen schien, fragte er sich, ob Paranoia ansteckend war. Er fand es immer wieder seltsam, welche Einzelheiten seiner Arbeit ihm zu schaffen machten: nicht unbedingt die Begegnung mit Gewalt und Grauen oder mit den schlimmsten Seiten der menschlichen Natur, sondern nun, als er in Richtung Alsterdorf fuhr, das Bild des sterbenden Reisch, der vor einem Computer saß und sich wünschte, Teil einer Lüge zu sein. Am stärksten bewegten Fabel der Kummer, die Verletzlichkeit und die Verzweiflung, die er bei seiner täglichen Arbeit sah.
Das ganze Team war wieder versammelt, und wie üblich ging man die Ermittlungen durch und besprach die neuen Informationen zu jedem Mord miteinander. Wie mit van Heiden abgesprochen, leitete Nicola Brüggemann nun die Untersuchungen im Network-Killer-Fall.
Brüggemann besaß eine Figur, die Fabels Mutter als »mollig« beschönigt hätte. Aber die Hauptkommissarin von der Arbeitsgruppe Verbrechen an Kindern war keineswegs anschmiegsam. Ihre Pfunde verteilten sich über eine Statur, die mindestens einen Meter achtzig groß war, und ihre Schultern hätten einem amerikanischen Profi-Footballer zur Ehre gereicht. Ihr schwarzes Haar, an den Seiten kurz und oben üppig, unterstrich ihr männliches Aussehen. Sie war, wie Fabel wusste, eine geradlinige Holsteinerin, deren Benehmen man als schroff und deren Humor man als beißend bezeichnen konnte. Ihr fehlte die Widerborstigkeit, auf die Fabel regelmäßig bei Anna stieß; stattdessen verfügte sie über einen kompromisslosen, direkten Professionalismus. Im Polizeigeschäft stand Nicola Brüggemann für die schnörkellose Variante. Fabel hatte großen Respekt vor ihr als Kollegin. Während sie die Fortschritte im Network-Killer-Fall schilderte, war er dankbar dafür, dass sie ihn demonstrativ bat, ihre Zuteilung von
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