Jan Fabel 06 - Tiefenangst
versucht hatte, Fabel zum Verdächtigen nicht nur im Network-Killer-Fall, sondern auch für Müller-Voigts Ermordung zu machen. Und wer immer dafür verantwortlich war, verfügte über enorme technische Fähigkeiten und Mittel. Wie das Pharos-Projekt.
»Aber was für eine Verbindung könnte zwischen dem Pharos-Projekt und Frauen bestehen, die nach dem klassischen Muster von Seriensexualstraftätern ausgewählt, vergewaltigt und erwürgt worden sind?«, fragte Nicola Brüggemann. »Ritualmorde – meinetwegen. Auch die Beseitigung von früheren Mitgliedern wäre plausibel. Aber wir wissen, dass keine dieser Frauen etwas mit dem Projekt zu tun hatte.«
»Mit der Ausnahme, dass Virtual Dimension einem Korn-Pharos-Unternehmen gehört«, sagte Werner.
»Stimmt, aber das ist kein so großer Zufall. Korn-Pharos beherrscht durch all die Firmen der Gruppe große Bereiche des Internet.«
»Was ist mit diesem Reisch, Jan?«, fragte Werner. »Sein Tod könnte als weiteres Zusammentreffen gesehen werden. Er hat Virtual Dimension ebenfalls genutzt, und wir wissen, dass er mit den toten Frauen Kontakt aufgenommen hatte. Vielleicht hat er aus einem Schuldgefühl heraus Selbstmord begangen.«
»Aber er war körperlich nicht in der Lage, solche Verbrechen zu verüben«, widersprach Fabel.
»Trotzdem glaube ich, dass Werner nicht unrecht hat«, sagte Brüggemann in ihrem tiefen Alt. »Wenn er unfähig war, die Verbrechen selbst auszuführen, könnte er trotzdem irgendwie in sie verwickelt gewesen sein. Vielleicht gehörte er zu einem Mordteam, das sich mit Blödsinn wie folie à deux oder folie à trois befasste. Vielleicht kriegte er einen Cyber-Ständer dadurch, dass ein Komplize die Tat für ihn beging.«
»Nein. Das passt nicht in den Zusammenhang, Nicola. Aber wir werden die Möglichkeit trotzdem ins Auge fassen. Die Arbeitsgruppe Cyberverbrechen hat mit einer forensischen Untersuchung seiner Festplatte begonnen. Vielleicht finden wir dort etwas. Allerdings glaube ich, dass Reisch ein armer Kerl war, dem das Schicksal die denkbar schlechtesten Karten zugeteilt hatte. Er beschloss einfach, diese Karten hinzuwerfen. Das ist jedenfalls meine Meinung.«
»Was ist mit der Generalstaatsanwaltschaft? Rückt sie bald Durchsuchungsbefehle heraus?«, fragte Henk Hermann.
»Wir haben einfach noch nicht genug Belastungsmaterial gegen das Pharos-Projekt. Ehrlich gesagt, die Generalstaatsanwaltschaft zögert, sich mit der juristischen Macht des Korn-Pharos-Konzerns anzulegen, ohne ihrer Sache völlig sicher zu sein.« Fabel seufzte. »Das ist verständlich. Der Konzern verfügt über die Mittel eines Kleinstaates. Wir müssen mehr über Pharos herausfinden. Und zwar etwas, das stichhaltig ist. Nicht mehr Indizien.«
»Es ist komisch«, meinte Henk. »Normalerweise steht ein Individuum, eine Einzelperson, an der Spitze unserer Verdächtigenliste. Aber hier geht es um eine Gruppe , dazu noch um eine ziemlich gestaltlose und anonyme Gruppe. Als wäre es ein Wirtschaftsverbrechen.«
Fabel starrte Henk an. Nach einer Weile wurde es dem Kommissar unbehaglich, und er lachte nervös. »Was ist denn?«
»Du hast recht, Henk«, sagte Fabel energisch. Er sprang auf und griff nach der Akte, die er von Menke erhalten hatte. »Verbrechen werden nicht von Körperschaften begangen. Ich habe hier irgendwo gelesen …« Er blätterte die Seiten des BfV-Berichts durch. »Hier ist es … In der Philosophie der Sekte wird die Bedeutung des Egregors, des Gruppengeistes, unterstrichen.«
Fabel las aus der Akte vor: »… der Egregor ist seit mehr als einem Jahrhundert ein Begriff des Okkultismus und des mystischen Denkens, doch das Pharos-Projekt hat seine Bedeutung aus der heutigen Managementlehre übernommen, wonach Unternehmen von einem einheitlichen Grundbewusstsein, der Corporate Culture, gekennzeichnet sind, zumindest was ihre Verantwortung und ihre Verpflichtungen betrifft. Wie alle destruktiven Sekten ist das Pharos-Projekt bemüht, den Einzelnen der Gruppe unterzuordnen. Um dieses Ziel zu erreichen, werden die Mitglieder des Projekts einer langwierigen psychologischen Programmierung sowie einer genau zu befolgenden, detailliert festgelegten und strukturierten Tagesroutine unterworfen. Teil der Schaffung eines Gemeinschaftsgeistes ist der ausschließliche Gebrauch der englischen Sprache als Kommunikationsmittel. Dies hat das Pharos-Projekt von großen deutschen Konzernen übernommen, die alle Führungskonferenzen in englischer Sprache
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