Jan Fabel 06 - Tiefenangst
abhalten, selbst wenn sämtliche Anwesenden deutsche Muttersprachler sind.
Ein weiteres Element der an das Konzept der Corporate Culture angelehnten Kultur des Pharos-Projekts besteht darin, dass sämtliche Anhänger Uniformen tragen. Wegen der bundesrepublikanischen Einschränkungen der Verwendung von Uniformen durch politische oder quasipolitische Gruppen zwingt das Pharos-Projekt seine Mitglieder, lediglich identische Straßenanzüge und -kostüme zu tragen: hellgraue für die einfachen Mitglieder, dunkelgraue für die Konsolidierer und schwarze für hohe Vertreter der Organisation. Dadurch vermeidet man Konflikte mit den Gesetzen und erreicht ein Element der Anonymität, da sich die Ausstattung nur unerheblich von normaler Geschäftskleidung unterscheidet …«
Fabel klappte den Ordner zu. »Werner, könntest du Astrid Bremer bitten, uns detaillierte Angaben über die chemische Zusammensetzung der grauen Fasern zu machen, die in Müller-Voigts Haus gefunden wurden. Sie sind besonders deshalb ungewöhnlich, weil sie vollständig synthetisch zu sein scheinen. Ich würde wetten, dass das Pharos-Projekt seine Uniformen bei irgendeinem Großhändler kauft. Anna, du musst deinen Kontaktmann bei der Generalstaatsanwaltschaft becircen und ihn überzeugen, dass wir zu Vergleichszwecken einen begrenzten Durchsuchungs- und Beschlagnahmebefehl für zwei Jacketts des Pharos-Projekts benötigen.« Fabel hielt inne und blickte zu Nicola Brüggemann hinüber.
»Nur zu«, sagte sie ohne eine Spur von Feindseligkeit. »Es ist deine Abteilung.«
»Vielen Dank.« Fabel verzog das Gesicht wie jemand, der sich daran zu erinnern versucht, wohin er seine Autoschlüssel gelegt hat. »Die Frau unten an den Docks – sie trug auch ein hellgraues Straßenkostüm.«
»Mein Gott, Jan«, sagte Brüggemann, »das ist sehr weit hergeholt. Kostüme sehen nun mal so aus.«
»Mag sein. Aber ich bin ziemlich fest davon überzeugt, dass sie eine Konsolidiererin war. Alles fügt sich allmählich zusammen. Die Morde des Network-Killers sind mit dem Pharos-Projekt verknüpft, aber ich kann den Grund ums Verrecken nicht herausfinden.« Er griff nach seinem Jackett an der Stuhllehne.
»Nicola, mach weiter. Ich muss weg.«
»Wohin willst du?«
»Ich werde einen Leuchtturm besichtigen.«
27.
Susanne war noch im Institut für Rechtsmedizin, als Fabel sie aus seinem Auto anrief, während er erneut auf das Alte Land und Stade zusteuerte. Diesmal umfuhr er die Stadt und hielt sich an ein Straßenband, das parallel zum Ufer verlief, doch am Wasserrand rechts von Fabel durch einen gewellten Deich abgeschirmt war. Zu seiner Linken teilte sich das Land in lange, schmale Felder von hellem und dunklem Grün oder gedämpftem Gold; alle waren von den Knicks eingegrenzt, die Müller-Voigt erwähnt hatte. Die Landschaft erinnerte an eine Patchworkdecke, die, abgesehen von den Deicherhebungen an ihrem Saum, makellos glatt gebügelt war.
Fabel brauchte ungefähr eine weitere Stunde, um den Pharos zu erreichen. Vorher hielt er am Straßenrand an, um das Gebäude aus der Entfernung zu bewundern. Das Licht nahm ab, und die Wolkendecke trübte die Aussicht ebenfalls ein, doch Fabel sah trotzdem, dass Müller-Voigt recht gehabt hatte: Der Pharos war in der Tat ein herrliches Bauwerk. An der Flanke des neuen Gebäudes stand ein vier oder fünf Stockwerke hoher, traditioneller Nordsee-Leuchtturm: nicht schlank, sondern massiv, kräftig und quadratisch. Die große Leuchtfeuergalerie war von sich überkreuzenden Eisenverstrebungen umgeben. Der Turm, offenbar gründlich renoviert, glänzte, als wäre er gerade gebaut worden und hätte nicht schon mehr als anderthalb Jahrhunderte unbeugsam in der Landschaft gestanden.
Doch vor allem beeindruckte Fabel das an den ursprünglichen Leuchtturm angefügte Hauptgebäude. Es bestand aus drei Abschnitten oder Bauelementen. Der Abschnitt, an dessen Seite sich der Leuchtturm anschloss, war ein langer, zweistöckiger Block. Man hatte anscheinend beabsichtigt, den Blick auf den Leuchtturm aus keiner Richtung zu verstellen. Dieser Abschnitt erstreckte sich rund fünfzig Meter weiter bis zum Ufer; dann folgte ein fünfstöckiger Block in Form eines mächtigen Parallelogramms – eines Rhomboeders, wie Fabel sich plötzlich aus seiner Schulmathematik erinnerte –, das über das Wasser hinausragte. Dieser Teil war von schweren Stahlbetonträgern eingefasst, doch die Seiten des Gebäudes bestanden aus Glas. Der dritte Abschnitt
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