Jan Tabak geht aufs Ganze
neugierig hinter Lady her, die vorausgelaufen war und sich in diesem Haus auszukennen schien. In einem kleinen Zimmer fanden sie den Hausherrn damit beschäftigt, einen Brief zu schreiben. Er saß am Tisch, hatte sich eine Serviette um den Hals gehängt, die Ärmel seines wollenen Hemdes
aufgekrempelt und eine große Zeitung auf dem Tisch ausgebreitet.. Darauf lagein Briefblock und stand ein Glas Tinte. In der Hand hielt Jochen einen dicken roten Federhalter mit sehr breiter Feder. Im Nähertreten bemerkten die Gäste, daß das oberste Blatt des Blockes mit riesigen Buchstaben fast ganz beschrieben war.
„Hallo, Jan“, sagte der Schreibende, ohne den Blick von seiner Arbeit zu nehmen. „Schön, daß du dich mal wieder sehen läßt. Setz dich hin, ich bin gleich fertig.“ Die Kinder bemerkte er gar nicht, aber den Hund, der ihm seinen schweren Kopf in den Schoß legte, streichelte er kräftig.
Langsam und unbeholfen schrieb er noch ein paar Sätze, faltete dann den Bogen zusammen und steckte ihn in einen Umschlag.
„Das mit der Adresse macht Waltraud heute abend“, meinte er. „Jochen, ich bin nicht allein gekommen“, sagte Jan nun, „ich habe zwei Kinder mitgebracht, Verwandte, Tim und Nicole. Sie möchten dir auch gern guten Tag sagen.“
Jochen wandte sich um und blickte in die Richtung, wo die Sitzbank stand.
„Ich hab’ doch gleich gemerkt, daß da noch jemand ist“, sagte er. „Kommt her, Kinder, ich möchte euch kennenlernen.“
Nicole und Tim traten zögernd auf den Mann zu. Der ergriff das Mädchen am Arm und betastete es prüfend. Nicole erschrak und wollte sich ihm schon entziehen, da sah sie, daß Jan Tabak ihr ein Zeichen machte. Er wies auf seine Augen und schloß sie. Nicole begriff: Jochen war blind. Ohne sich zu sträuben, ertrug sie nun seine Hand in ihrem Haar und auf ihrem Gesicht.
„Du bist ein hübsches Kind“, sagte Jochen, „ich freue mich, daß du mich besuchst. Setz dich an den Tisch, gleich gibt es was zu essen.“ Auch Tim wurde betastet und zum Sitzen aufgefordert. Lady lag längst unterm Tisch und spielte Löwe in Ruhestellung. Jetzt stand Jochen auf und räumte die Schreibutensilien ab. Sicher bewegte er sich im Zimmer hin und her, ohne an einen Schrank oder Stuhl zu stoßen.
„Für Kinder habe ich immer was im Haus“, sagte er und stellte einen großen Teller mit Gebäck auf den Tisch. „Greift zu! Wenn der Kram aufgegessen ist, gibt es Neues. Im Schrank ist noch genug.“
Die jungen Gäste begannen sofort zu knabbern.
Jochen holte nun noch einige Gläser, große für die leichten und kleine für die schweren Getränke. Daß er aber seine Schnapsflasche hinter der Couch hervorangelte, die nur noch einen kläglichen Rest enthielt, erlaubte Jan nicht.
„Laß bloß den Buddel stehen!“ rief er. „Ich habe einen mitgebracht. Du mußt mir nur einen Korkenzieher geben.“
Tim und Nicole beobachteten den Mann staunend. Alle seine Bewegungen waren selbstverständlich und ruhig. Wenn sie nicht gewußt hätten, daß er blind war, hätten sie es nicht für möglich gehalten. „Jochen ist mit mir zusammen in Indien gewesen“, begann Jan nun die Unterhaltung, nachdem sie einander zugeprostet, das erste Glas ausgetrunken und wieder nachgeschenkt hatten.
Jochen nickte zustimmend.
„Das war ein Abenteuer, was? Kannst du dich noch an das Elefantenrennen erinnern?“
„Na, hör mal!“ rief Jan. „So was vergißt man doch nicht. Wißt ihr, wir waren damals in Bombay, hatten unser Schiff verlassen, um uns ein wenig die Stadt und die Menschen darin anzusehen, und waren dabei in den Monsunregen geraten.“
„Aber, Jan, du nimmst ja den Witz der Sache vorweg!“ unterbrach Jochen. „Laß den Monsunregen noch eine Weile oben und erzähle der Reihe nach: wie wir durch die Stadt bummelten, über die malerisch gekleideten Menschen staunten und den Brahmanen trafen.“
„Davon wollte ich gerade berichten“, brummte Jan, „aber du läßt einen ja nicht zu Worte kommen. Ich weiß noch genau, was wir zu dem jungen Mann sagten, als er uns die großen Hindu-Tempel zeigen wollte. Mein Lieber, sagte ich, das ist genau das, was uns am Herzen liegt. Wenn du es nicht so teuer machst, vertrauen wir uns gern deiner Führung an.“
„Ja“, fuhr Jochen fort, „das sagtest du. Ich übersetzte deine Worte dann ins Englische, damit der braune Mensch es auch verstand, und schon zogen wir los, immer von einem Tempel zum andern. Am Eingang mußten wir uns jedesmal die Schuhe
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