Jan Tabak geht aufs Ganze
Die Stellung des Pferdes hinter statt vor dem Schlitten verriet ihr alles. Sie fragte aber nichts, sondern nahm sich wortlos und hilfreich ihrer heimgekehrten Familie an.
Oma Jenny legte sie auf die Couch und flößte ihr eine Tasse Tee ein; ihrem Mann half sie beim Ausziehen der Schuhe, besonders des sohlenlosen, und stellte ihm die Filzhausschuhe hin, die Jenny ihm schenken wollte; Nicole verband sie die Stirn, und Tim rieb sie die Schienbeine mit Franzbranntwein ein. So kamen die Kirchgänger allmählich wieder zu sich. Nun zündete Tina den Weihnachtsbaum an, verteilte die Geschenke und füllte den Glühwein in die Gläser.
„Trinkt“, sagte sie, „das hilft euch wieder auf die Beine. Mir scheint, eure Fahrt verlief nicht ganz programmgemäß.“
Da rappelte Oma Jenny sich ächzend auf, schaute auf die, die mit ihr gelitten und gebangt hatten, und sagte: „Ich weiß nicht, welches Programm hier vorlag, aber du kannst mir glauben, daß es das bunteste und unterhaltsamste war, an dem ich je teilnahm. Fröhliche Weihnachten!“
Jan Tabak muß zur Schule
Nachdem die beiden jungen Gäste und der eine alte ein halbes Jahr lang im Hause der Marwedels gelebt hatten, vertrugen sich alle miteinander recht gut. Gemeinsame Freuden, gemeinsame Sorgen hatten sie einander nähergebracht und zu einer großen Familie werden lassen. Zwar hatte Oma Jenny ihren Eigensinn und ihre Herrschsucht nicht abgelegt wie einen alten Mantel, aber diese unerfreulichen Züge traten doch immer seltener hervor, und andere, liebenswertere, wurden deutlich. Besonders auffällig entwickelte sich ihre Fürsorge den Kindern und, fast noch stärker, dem großen Hund gegenüber. Sie brachte Lady eine so zärtliche Zuneigung entgegen, daß es selbst Hinnerk Murken auffiel, obwohl er robuster Natur war und Feinheiten im Umgang seiner Mitmenschen zueinander im allgemeinen nicht wahrnahm.
Auch die Kinder hatten sich mehr und mehr den Gesetzen angepaßt, die in einer Familie gelten und die von denen in einem Heim erheblich abweichen. Darum hatte sich vornehmlich Jan Tabak verdient gemacht, den nichts aus der Ruhe brachte, ob nun Tim eine „pädagogische“ Auseinandersetzung mit seiner Frau hatte, Oma Jenny eine Kaffeekanne zerbrach oder Nicole zum drittenmal mit Zeug in die Wümme fiel. Er war so wenig Oberhaupt der Familie, so wenig Autorität, war so sehr Mensch mit Fehlern und Schwächen, daß er gerade dadurch Sympathie und Ansehen gewann. Die Kinder vertrauten ihm rückhaltlos. Sie mochten auch Tina, weil die sich bescheiden gab und zurückhielt, obwohl sie doch eigentlich die Hosen anhatte und das Geschehen im Haus bestimmte. Ihre „Pädagogik“ an der Wand war längst vergessen. Nach dieser Lage der Dinge hätte das Leben für alle Familienmitglieder ein reines Vergnügen sein müssen.
Aber das war es nicht.
Gab es auch im Haus am Deich keinen Zündstoff mehr, so fand sich genug davon an der Stätte, wo sich Tim und Nicole täglich fünf Stunden und länger aufhalten mußten, in der Schule.
Tim, überempfindlich jeglicher Machtanmaßung gegenüber, stand mit seinem Lehrer ständig auf dem Kriegsfuß, und das wirkte sich auch auf seine Familie aus.
Eines Tages kam er bis zum Rand angefüllt mit Empörung nach Hause. Er warf seine Schultasche in die Ecke und sich selbst krachend in Oma Jennys Schaukelstuhl. Mit zusammengekniffenem Mund wartete er ungeduldig auf das Mittagessen, um der versammelten Mannschaft die neuesten Gemeinheiten seines Lehrers mitteilen zu können. Da die Schnitzel noch nicht ganz durchgebraten waren, fand er Zeit, sich abzukühlen und zu überlegen, wie er seine Anklagen gegen jede autoritäre Erziehung und seinen Lehrer im besonderen am wirkungsvollsten vortrage.
Als alle um den Tisch saßen, begann er daher ganz ruhig und sachlich, so daß keiner merkte, wie es in seinem Innern aussah.
„Tante Tina“, sagte er, „das schmeckt bei dir immer wie im besten Hotel. Ich glaube nicht, daß es in Niederblockland noch eine Frau gibt, die so gut kochen kann wie du. Wirklich, im Kochen bist du einsame Klasse.“
Verwirrt über ein so großes Lob, wäre Tina auf dem Weg zum Herd fast über Lady gestolpert, die sich eben anschickte, ihren Platz unter dem Tisch einzunehmen. Sie gab dem Hund einen Klaps und stellte dann die Bratenschüssel ab.
„Es freut mich, daß es dir schmeckt“, sagte sie, „lang nur tüchtig zu, du kannst noch ein Schnitzel haben.“
Tim war mit seiner gezielten Lobhudelei indessen
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