Jan Tabak geht aufs Ganze
dem Tritt kam. Er stolperte, fiel lang hin und hörte den Schlitten samt Oma Jenny über sich hinwegfegen. Die rechte Kufe ratschte scharf über seinen Schuh und riß fast die ganze Sohle ab. Das Fahrzeug wurde dadurch einseitig gebremst und aus der Bahn getragen. Es schoß in den Graben und lud seinen einzigen Insassen gegen dessen Wunsch und Willen und viel zu hastig aus. Jenny wurde über die vordere Sitzbank hinweg in einen Busch katapultiert, zu ihrem Glück, denn der breitete hilfreich seine Zweige aus und fing sie auf. So kam die alte Dame mit einigen Schrammen und Kratzern davon. Nicole stieß sich den Kopf empfindlich an der Rückenlehne des Sitzes, und Tim schlug mit beiden Schienbeinen schmerzhaft gegen den Sitz selbst.
Kein Knirschen, kein Glockengeläut, kein fröhliches Fußgetrappel mehr. Tiefes Schweigen lag über dem Unglücksort.
Aber nicht lange.
Als der Schock überwunden war, machten die Verletzten durch Stöhnen und Zischen darauf aufmerksam, daß sie noch lebten und nach dem Sanitäter verlangten. Allein, den mußten sie selbst stellen. So erhob sich denn Jan mühsam, tappte mit einem heilen und einem sohlenflattrigen Schuh an den Graben und pflückte Jenny aus dem Busch. Dabei spürte er, wie sich die Kälte gierig durch die Wollsocke fraß und erst einmal die Zehen anknabberte. Er stellte Jenny wortlos mitten auf die Straße und bemühte sich dann um Nicole, die leise vor sich hin weinte und ihre Beule mit Schnee kühlte. Tim rieb sich die Schienbeine und begleitete das mit einem Schwall recht unweihnachtlicher Sprachbilder und Redewendungen. Er half jedoch, den Schlitten aus dem Graben zu ziehen.
„So, Oma Jenny“, sagte Jan, „nun steig wieder ein. Die Fahrt geht weiter.“
Aber sie weigerte sich. Sie tupfte sich mit dem Taschentuch das Gesicht ab und sagte, sie wolle lieber hier am Boden festfrieren, als ein zweites Mal so durch die Luft geschossen zu werden.
„Du mußt nicht glauben, daß wir das mit Absicht getan haben“, sagte Tim. „Wir wollten uns nur einen Spaß machen.“
Das tröstete Jenny nur wenig. Schließlich konnte Jan ihr aber klarmachen, daß der Fußweg durch den Schnee auch kein reines Vergnügen sei. Da nahm sie ihrer Familie den Schwur ab, den Rest des Weges nur noch zu gehen und sofort zu bremsen, wenn der Schlitten in Schwung kommen sollte, und stieg widerstrebend ein. Sie hüllte sich wieder in die Decken und gab das Zeichen zum Aufbruch. Jan mußte seinen Leibriemen von der Hose lösen und ihn um den beschädigten Schuh wickeln, damit die Sohle das Klappern ließ. Und dann bewegte sich der Trupp weiter, geschunden, aber nicht gebrochen, Schritt für Schritt, während in den Höfen rings und in der fernen Stadt die Weihnachtsbäume angezündet wurden und der Heilige Abend begann, wie Jan es an jenem Tag im November vorausgesehen hatte.
Lange Zeit sprach keiner ein Wort. Die Kinder und Jenny waren mit ihrem Schmerz beschäftigt und Jan ganz von seiner lockeren Sohle in Anspruch genommen, die bei jedem Schritt versuchte, ihm einen ihrer spitzen Nägel in den großen Zeh zu treiben. Als sie aber die Wümme erreichten und oben auf dem Deich gegen den heller gewordenen Himmel ein Pferd erblickten, klein und stämmig, wurde das Schweigen gebrochen.
„Halt!“ rief Jan. „Da steht Berta! Bleibt ihr hier und bewegt euch nicht. Ich werde mich gegen den Wind anschleichen und sie einfangen. Gib mir den Zucker, Nicole!“
Mit der Tüte in der Hand näherte er sich langsam dem Tier, wobei er es mit den liebevollsten Kosenamen belegte.
„Mein süßer Haschespatz“, sagte er, „da bist du ja wieder! Und so allein in der kalten Nacht, so einsam und verlassen. Aber nun sind wir bei dir, passen auf dich auf und geben dir Zucker, süßen, süßen Zucker. Hier!“ Er fürchtete, Berta könne ihm davonlaufen, bevor er die Zügel in der Hand hätte. Aber das Pferd dachte nicht an Flucht, fraß den Zucker und ließ sich widerstandslos vor den Schlitten spannen.
„Na, Kinder, was sagt ihr nun?“ rief Jan. „Steigt ein, der zweite Teil des Heimweges wird angenehmer.“ Da kletterten Tim und Nicole auf den Schlitten und kuschelten sich in die Decken. Jan setzte sich zu ihnen und ergriff die Zügel.
„Hüh, Berta“, rief er, „lauf, altes Mädchen! Wir wollen nach Hause!“ Brav zog das Tier an und marschierte in die gewünschte Richtung. „Gott sei Dank“, sagte Jenny, „ich konnte es kaum noch mit ansehen, wie ihr euch quälen mußtet.“
„Nun haben wir es
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