Jan Weiler Antonio im Wunderland
Nachbarskindern und mit ihren vielen Cousins und Cousinen, die nun auch erwachsen und verheiratet sind.
Sie sind alle noch da, bis auf einen schwulen Vetter, der jetzt in Mailand lebt. Manche von ihnen haben sich auf recht drastische Weise nicht unbedingt zu ihrem Vorteil verändert, und zu vielen hat sie einfach keinen Draht mehr. Kinder haben es da viel einfacher. Denen ist es egal, wie einer aussieht oder was er beruflich macht und ob er in die Kirche geht oder nicht.
Aber das ist eigentlich nicht unser Problem. Das eigentliche Problem spaltet sich auf in zwei gewaltige Unterprobleme, die mit den Jahren immer größer wurden.
Nummer eins ist der Stress, der durch einen fürchtbaren und ständig vor sich hin schwelenden Familienkrieg ausgelöst wird. Die ganze Sippe ist in dieser Sache ein einziges Glutnest. Dieser Zank hat die Familie in zwei Lager geteilt, die wir aber fairerweise beide besuchen müssen. Die verfeinde-ten Äste des Stammbaums heißen Carducci und Marcipane, zwischen ihnen gibt es Ehen und zahlreiche unheimlich heimliche Verzahnungen, über die nie gesprochen wird, welche aber die Bande so eng knüpfen, dass immer von Verwandt-schaft und nie von Verschwägerung die Rede ist. Insgesamt gibt es bald zweihundert Marcipanes und knapp ebenso viele Carduccis. Insgesamt stellen beide Familien fast ein Prozent der Bevölkerung von Campobasso.
Man muss unbedingt vermeiden, der einen Truppe zu erzählen, dass man auch die andere trifft.
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Die Familien tragen ihre Feindschaft mit einer Leidenschaft und Konsequenz aus, die überall sonst auf der Welt nicht vorstellbar wäre. So spielen die Carducci-Jungs grundsätzlich nicht im selben Fußballverein wie die Marcipanes, und wenn sie sich im Rahmen eines Ligaspiels begegnen könnten, werden sie von ihren Trainern gar nicht erst aufgestellt. Im Kino und in der Kirche besetzen die Carduccis immer Plätze auf der linken Seite, die Marcipanes hingegen sitzen rechts. Auf diese Weise wird verhindert, dass man aufstehen muss, um einander vorbeizulassen. Man hat die Bäcker, die Metzger, die Friseure und Banken aufgeteilt in jene, wo Carduccis hinge-hen, und solche, die von Marcipanes besucht werden. Sogar die Straßen im neuen Teil der Stadt und die kleinen Gassen rund um die Porta Mancina 1 sind nach undurchschaubaren und unausgesprochenen Regeln reserviert.
Die Kinder werden in diese Fehde hineingeboren, und bei der Einschulung achtet man peinlich darauf, die Nachkom-menschaft nach Familien getrennt auf die Klassen zu verteilen. So entstehen natürlich Carducci- und Marcipane-Klassen, denn die Mitschüler ergreifen immer für die Familie Partei, deren Kind mit ihnen in einer Klasse sitzt. Es ist wirklich eine große Sache, und man sollte sich besser nicht dazwischen-stellen.
Als ich einmal auf die Frage von Onkel RafFaele – einem fa-natischen Marcipane –, was wir denn den ganzen Tag gemacht hätten, antwortete, dass wir mit Cousine Rjcarda Carducci ein 1 Porta Mancina ist das alte Stadttor von Campobasso. Dort beginnt die Altstadt mit ihren zahllosen verwinkelten Gassen und Treppen.
Wenn man beharrlich bis ganz nach oben läuft, landet man beim Castello Monforte, einer Burg, von der man einen sehr schönen Blick hat. Macht man aber nur einmal. Einen Einheimischen habe ich da oben nicht getroffen, denen ist das zu langweilig.
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Eis essen waren, standen wir kurz vorm Rausschmiss. Nonna Anna schüttelte eine halbe Stunde den Kopf und sprach kein Wort mehr mit uns. Es gelang uns nur mit größter Mühe, nicht aus ihrem Adressbuch gestrichen zu werden. Das kann man alles albern finden, aber dann muss man eben zu Hause bleiben.
Das zweite Problem, das es uns immer schwerer macht, emotional unbelastet in die Ferien nach Italien zu fahren, hat paradoxerweise mit der unendlichen Gastfreundschaft meiner Familie zu tun. Die Fahrt selbst ist ein Klacks mit der Wichsbürste, verglichen mit dem Aufenthalt unter eineinhalb Dutzend Italienern, die ständig um einen herumschwirren.
Sobald unsere Leute wissen, dass wir kommen, müssen sie für mich einkaufen. Solange ich da bin, stehen Unmengen Bier der Marke Peroni im Kühlschrank, denn ich muss mal «ja» gesagt haben, als ich gefragt wurde, ob ich dieses Bier-Surrogat mag. Außerdem wartet immer ein frischer panettone auf mich, damit ich mich freue und zugreife, nach der langen Fahrt.
Ich bringe es nicht über mich, Nonna Anna die Wahrheit zu sagen, nämlich dass ich nur wenig auf der Welt weniger mag als
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