Jan Weiler Antonio im Wunderland
die Heimat liegt in Trümmern. Keiner kann sie retten. Antonio hält ein flammendes Plädoyer für den Denkmalschutz und sagt, in meine Richtung gewandt:
«Ich weiß, was zu tun ist. Ihr werdet noch sehen, ich habe schon eine Idee.» Der Umstand, dass er dabei mich anguckt, macht mir Sorgen. Ich habe da so eine Vorahnung, nämlich dass er irgendwas Fürchtbares plant und ich ihm dabei helfen soll. Diese Skepsis wird sich schon bald als begründet erweisen, aber an diesem Abend rückt er nicht mit seinem Masterplan zur Rettung der Altstadt von Campobasso heraus.
Ich habe gerade fünfzehn Euro beim Backgammon gegen Gianluca verloren, da klingelt das Telefon. Es ist Lorella, Saras große Schwester. Sie ist mit einem Diplomingenieur namens Jürgen verheiratet. Ich habe ihn nur einmal gesehen, und er war mir gleich sympathisch, weil er etwas von Rotwein ver-104
steht. Ich finde Weinkenner immer automatisch faszinierend, weil sie in dieser wunderbaren Aromawelt leben und Honig, Sandelholz und Himbeere schmecken, wo andere einfach sagen: «Rotwein! Das schmeckt nach ... Rotwein eben.»
Sie leben in Südafrika, und Lorella ist schwanger. Ursula spricht leise mit ihrer älteren Tochter. Aber sie ist anders als sonst, sie zittert richtig. Als sie auflegt, sind alle still, weil sie bemerkt haben, dass da etwas Besonderes vor sich geht.
Ursula schaut zu uns herüber und sagt mit einer Sanftheit, die ich gar nicht von dieser pragmatischen Frau kenne: «Lorella und Jürgen kommen nach Hause. Sie wollen ihr Baby bei uns bekommen.» Sofort sehe ich Antonio an. Er sagt nichts, aber große runde Tränen laufen über sein unrasiertes Gesicht. Es ist, als weine ein alter Baum.
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SIEBEN
Auf dem Rückweg von Campobasso nach Hause checken Sara und ich heimlich in einem Wellnesshotel am Gardasee ein. Dort erholen wir uns von unserer Familie und kommen entspannt aus den Ferien heim. Jetzt beginnt der Herbst, und der wird bei uns Münchnern vom nahenden Oktoberfest do-miniert. Schon viele Wochen vorher beginnt der Aufbau der Bierzelte, schon Monate zuvor kann man Tische reservieren.
Deutsches Bier übt eine unheimliche Faszination auf Italiener aus, denn Bier gehört nicht unbedingt zu den herausragenden Spezialitäten ihres Landes. Die Bewohner Italiens haben in vielerlei Hinsicht aufgetrumpft, beispielsweise mit der Erfindung sehr langweiligen Fußballs sowie der euphori-schen Begeisterung eben dafür. Auch Wein aus Italien ist sehr berühmt – da kann das Bier ruhig schmecken wie feuchter Vogelsand.
Viele Italiener fahren, um richtiges Bier zu trinken, gern einmal im Jahr nach München zum Oktoberfest, wo man außer Italienern auch viele Skandinavier und Australier sieht, deren Bier ebenfalls nicht unbedingt Weltspitze ist. Australier und Skandinavier sind trinkfest und deshalb gern gesehene Gäste im Festzelt, was man von den Italienern nur sehr bedingt sagen kann. Sie vertragen nicht besonders viel und parken die halbe Stadt mit Wohnmobilen voll, denen sie früh entweichen, um auf die Festwiese zu krabbeln, wo sie schon morgens in den Zelten sitzen. Italiener trinken etwa drei Stunden an einem Liter Bier und schlafen dann entweder 106
darüber ein – oder sie tanzen auf den Bänken. Es lässt sich hier eine gewisse Analogie zu der Art und Weise feststellen, wie Italiener sich im Straßenverkehr fortbewegen, nämlich entweder praktisch gar nicht oder aber in einem für alle be-unruhigenden Tempo.
Die italienischen Gäste des Oktoberfestes trinken zwar nicht so viel, aber dafür kaufen sie groß ein. Keine Losbude mit rosa Plüschtieren ist vor ihnen sicher, kein Lebkuchenherz zu groß und keine Mütze zu albern. Wenn die Italiener nicht waren, könnte man das Oktoberfest ein hirnloses Rumgeschubse im Vollrausch nennen. Mit ihnen jedoch ist es ein hirnloses Rumgeschubse im Kaufrausch.
Das sind Dinge, die man wissen kann oder zu wissen glaubt, wenn man selbst auf das Oktoberfest geht. Das muss man, wenn man in der bayerischen Hauptstadt lebt. Mindestens einmal im Jahr muss man das, sonst ist man eine soziale Randgruppe. Auch ich möchte gesellschaftlich nicht abseits stehen und verbringe einen Abend pro Jahr auf der Wiesn. In den ersten Jahren meines Lebens in München pestete ich Ureinwohner gern mit der Frage, ob sie heute Abend mit auf die Wiese gingen. Münchner werden sehr böse, wenn man Wiese sagt und nicht Wiesn. Sie werden überhaupt sehr böse, wenn man irgendwas falsch ausspricht, dabei sprechen sie selber
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