Jan Weiler Antonio im Wunderland
fehlt mir an nichts, obwohl hier fast alles fehlt.
Am nächsten Tag ist es endlich an der Zeit, zum Strand zu 1 Es macht Italienern großen Spaß, Deutsch nachzumachen. Das geht ganz einfach: Man muss nur an jedes Wort die Endung «-en» hängen.
Merkwürdigerweise klingt das dann wirklich sehr deutsch.
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gehen. Wir packen unsere siebenhundert Sachen und marschieren los. Am Meer angekommen, suchen wir einen ad-
äquaten Platz, wir brauchen viel davon, denn wir haben ein Zelt dabei, damit sich Nonna und die Tanten umziehen können.
Dann eine ganze Batterie von Klappstühlen und – autsch, merda – was war das denn? Ich wollte gerade einen Sonnenschirm fachgerecht in den Sand kreiseln lassen und stemmte mich dafür mit aller Kraft in den Boden, als sich von dort aus etwas mit nicht geringerer Kraft in meinen rechten Fuß bohrte. Ich lasse den Schirm fallen und sehe nach: Ich bin in eine verrostete Schraube von ungefähr sieben Zentimeter Länge getreten. Mindestens zwei davon stecken in meiner Fußsohle.
Es blutet ein wenig, Nonna Anna schreit «Sangue, Sangue! » 1
und dann noch «Maria, er blutet!».
Dazu muss man sagen, dass man sich stets große Sorgen um mich macht, auch wenn ich nur Zeitung lese oder mir die Zähne putze. Es ist, als befürchte man ständig, etwas falsch zu machen und zur Strafe aus der EU ausgeschlossen zu werden.
Auch die merdosa 2 Schraube nagt am Selbstwertgefühl meiner Familie.
«Das ist wieder typisch für Italien», schreit Antonio, dessen Emigrantentum immer auch dazu führt, seine Heimat zu ver-fluchen, wenn er dort zu Besuch ist. In Deutschland hingegen liebt er sein Italien über alles. Aber egal. Jedenfalls führt er sich auf wie der italienische Ministerpräsident, wenn man ihn der Steuerhinterziehung verdächtigt. Dies lockt andere Familienmitglieder an und natürlich auch Wildfremde sonder Zahl, die sehen wollen, wie ein Deutscher an ihrem Strand stirbt. Das hatte man hier lange nicht mehr! Bald ist mein Fuß umringt 1 Blut
2 beschissene
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von kringelhaarigen, braun gebrannten Männern in knappen, aber bunten Badehosen. Die sehen aus, als wollten sie sagen:
«Respekt. Das nenn ich mal 'ne Schraube.»
Marco sagt unpassenderweise: «Ich kenne einen, der ist an so was draufgegangen.»
Darauf Gianluca: «Wen denn?»
«Jesus.» Alle lachen, bloß ich nicht, denn das hier tut weh.
Es schmerzt wirklich ungeheuerlich. Außerdem befürchte ich, Wundstarrkrampf, Tollwut oder AIDS zu bekommen, wenn ich nicht gleich zum Arzt gebracht werde. Antonio fragt Raffaele, ob dieser Werkzeug im Auto habe, vielleicht einen Schraubenzieher, doch der verneint. Er macht immer alles mit dem Hammer, er braucht keinen Schraubenzieher. Maria ist der Ansicht, man könne gut mit einer Schraube im Fuß leben, wenn man sie knapp absägen würde, und ein fremder Mann mit Brusthaar, das sich bis auf die Schulterblätter er-streckt, findet, man müsse das Ding herausreißen und sofort die Wunde aussaugen, wofür er sich zur Verfügung stellt. Ich lehne ab. Versteht man doch, oder?
Marco hat eine bessere Idee. «Wir könnten ihn ja ins Krankenhaus bringen», schlägt er vor. Einerseits freue ich mich über so viel Umsicht, auf der anderen Seite habe ich aber auch Angst. Ich denke darüber nach, wann ich die letzte Tetanus-Impfung hatte. So etwas weiß man ja nie auswendig.
Wahrscheinlich ist das zwanzig Jahre her und war gar keine Tetanus-Impfung. Und überhaupt, vielleicht kennen die so etwas hier überhaupt nicht und halten Tetanus für eine Eis-sorte. Wenn ich mich fürchte, werde ich immer ein bisschen paranoid.
Im Augenblick habe ich jedoch keine Wahl, also fahre ich mit Sara und Marco ins Krankenhaus, wo ich in einem Warte-raum neben einem verheulten Teenager und einem Greis Platz 98
nehme, der einen ungeheuren Insektenstich am Hals trägt und im Begriff ist, daran zu ersticken.
Wir warten fast zwei Stunden, es wird schon Nachmittag, als man sich endlich um mich kümmert. Ich habe bereits ein Badetuch durchgeblutet, und die Wunde, in der immer noch die Schraube steckt, hat einen blauen Rand. Eine Schwester wickelt das Tuch ab und holt den Arzt. Der stellt sich als un-erfahrenes Jüngelchen heraus, der, kaum dass er meine Sara gesehen hat, damit beginnt, sie anzubaggern. Ich mache auf mich aufmerksam, indem ich laut ächze und auf meinen Fuß zeige.
«Ah, eine Schraube», sagt das Ärztlein und versucht, sie aus dem Fuß zu ziehen. Aber wenn das so einfach wäre, hätte ich es selbst
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