Jan Weiler Antonio im Wunderland
Heringe stecken noch im Morast. Ob die Typen auf dem Oktoberfest waren, will Fürio wissen. «O ja», antworte ich und beobachte die leicht ange-ekelte Faszination, mit der er die Skandinavier ansieht. Es ist ihm anzumerken, dass der Anblick von betrunkenen Wikin-gern für ihn eine Premiere ist. Wir in München sehen das jeden Herbst. Dies und noch viel schrecklichere Dinge!
Das Oktoberfest hat sich nämlich in den vergangenen Jahren stark verändert und ist von einer Art Gamsbart-Woodstock zu etwas mutiert, was man auch aus dem Privat-fernsehen kennt: sauber angeprolte, also tätowierte Mas-senunterhaltung in tümelnden Klamotten, deren Designer einmal für ihre Geschmacklosigkeiten in der Hölle braten werden. Authentisch ist am Oktoberfest eigentlich bloß noch der Kopfschmerz am nächsten Tag. Mit einem Volksfest hat das Ganze jedenfalls kaum mehr etwas zu tun, mehr mit einem Wir-sind-das-VoIk-Fest. Man kann es in etwa mit der Silvesterfeier am Brandenburger Tor vergleichen. Bloß ist das Oktoberfest auf albtraumhafte Weise schicker und dauert vor allem viel länger. Marco ist das schnuppe. Er versteht nicht, warum die Deutschen immer so an sich und aneinander leiden, statt ihren Spaß zu haben.
Und da hat er auch wieder Recht. Man schämt sich ja als Deutscher in luziden Momenten für diese unangenehme At-titüde, alles früher besser gefunden zu haben oder es ganz anders zu wollen, meistens ohne störende Mitmenschen. Die 110
Wahrheit aus aus deutscher Sicht ist: Wir können uns ganz einfach auf nichts einstellen und mit nichts abfinden. Nicht mit dem vermurksten Wembley-Tor, nicht mit dem deutschen Essen, nicht mit den Fernsehgebühren.
Solche Sorgen hat Marco nicht. Er fügt sich schulterzu-ckend in die Unzulänglichkeiten seiner Heimat und freut sich dafür umso mehr, wenn er in der Fremde auf etwas Italienisches stößt. Das ist in München nicht schwer, denn München nimmt für sich in Anspruch, die nördlichste Stadt Italiens zu sein, und das stimmt auch. Man findet überall im Stadtbild die italienische Fahne, besonders wenn man an italienischen Lokalen vorbeikommt, und das ist häufig.
Auf der Theresienwiese verlieren wir Fürio innerhalb von etwa einer halben Minute aus den Augen. Uns an den Händen haltend, suchen wir ihn und entdecken ihn schließlich bei einer angeregten Unterhaltung mit Studenten aus Turin, die gerade auf dem Heimweg sind. Sie tragen riesige graue Filzhüte und sind kaum noch des Italienischen mächtig. Immerhin kennen sie den Weg zur Quelle ihrer Trunkenheit und gestikulieren raumgreifend in Richtung eines gigantischen brüllenden Plastiklöwen, der auf einem Zelt montiert ist.
In dem Enthusiasmus, mit dem sich meine Begleiter nun durch die Ströme von verdauenden Leibern zum Ziel quet-schen, sind sie Spermien nicht unähnlich, aber ich bin höflich genug, dies jetzt nicht zur Sprache zu bringen. Dafür ist mein Italienisch auch deutlich zu schlecht. Zwar habe ich in den vergangenen Jahren schon sehr viel dazugelernt, aber bei mir besteht immer das Risiko, in dieser Sprache böse auszu-rutschen.
Einmal ging ich in Campobasso zum Arzt, weil mich der kleine Hund von Tante Maria gebissen hatte. Ich erklärte Dot-111
tor Neri, dass meine polpetta (Fleischklößchen) heftig schmerz-te. Der Doktor sah mich lange an. Dann bat er mich, ihm die Stelle mal zu zeigen. Ich schob die Hose hoch und deutete auf mein polpaccio (Wade), worauf er mir in freundlichem Ton zu verstehen gab, dass ich polpettone (wirres Zeug) 1 reden würde.
In einem anderen Fall lobte ich eine Cousine meiner Frau im Rahmen eines größeren Abendessens mit ungefähr vierzehn aufmerksam zuhörenden Familienmitgliedern für ihren gro-
ßen senno (Verstand). Dachte ich jedenfalls. Tatsächlich pries ich ihren großen seno (Busen). Aber jetzt sind wir ja nicht in Italien, sondern auf dem Oktoberfest, und da braucht man kein Italienisch zu können. Da braucht man nur Geld und Geduld, bis man es ausgeben darf.
Natürlich ist das Zelt mit dem Plastiklöwen auf dem Dach geschlossen; und zwar, wie ein Mann mit zitterndem Bart unablässig in die Menge ruft, bereits seit sechs Stunden. Man ließe erst wieder Gäste hinein, wenn mindestens fünfhundert Menschen das Zelt verlassen hätten, was aber unzweifelhaft nie geschehen wird. Marco, Fürio und Francesco sind untröstlich. Es gelingt mir, sie davon abzuhalten, es bei allen weiteren Zelten zu probieren, und biete ihnen an, die Fahrgeschäfte des Oktoberfestes zu
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