Jan Weiler Antonio im Wunderland
wo-möglich einen Herzanfall hat, gekrümmt in seinem Führer-stand auf dem Boden liegt und die Bahn nicht mehr anhalten kann. Nach der dritten mit Höchstgeschwindigkeit durch-rasten Station bekommt man es dann wirklich mit der Angst zu tun. Womöglich ist der Zug ja auch entführt worden und hält überhaupt erst wieder in Philadelphia. Schließlich stoppt die Bahn, und man ist definitiv zu weit gefahren. Wir fahren sogar noch viel weiter als zu weit.
Meine Begleitung und ich, der für alles verantwortlich gemacht wird, wären gerne an der 77. Straße ausgestiegen, aber die Bahn der New York City Transit GmbH lässt uns nicht. Den nächsten Stopp an der 86. Straße verpassen wir, weil Benno mit seiner Jacke zwischen zwei Sitzen festhängt und wir zu dritt versuchen, sie wieder herauszufummeln. Auch den dar-auffolgenden Halt an der 125. Straße nehmen wir nicht wahr, weil ich kurzfristig die Orientierung verloren habe und wild mit meiner Karte herumfuchtele. Die Mitreisenden finden uns mit Sicherheit sehr drollig, aber sie lachen nicht. Sie gucken nur und sind stolz darauf, Amerikaner zu sein.
Jetzt geht es in die Bronx, wo der Wagen dann doch auch mal anhält. Wir entweichen und kämpfen uns durch auf das gegenüberliegende Gleis, von wo wir mit wild schlagenden Herzen (außer Benno) in einer Bummelbahn wieder zurück-fahren. Ein gutes Stündchen nach unserer Abfahrt an der 59. Straße sind wir schließlich am Guggenheim Museum, das Antonio gut gefällt, obwohl es seiner Meinung nach aussieht wie der Rohbau eines Parkhauses. Nach dem Besuch des Museums, das hervorragende sanitäre Anlagen aufweist (laut Benno) und mediokren Kaffee (Antonio), laufen wir mit er-lahmender Lust südwärts, Richtung Hotel, wo unsere Koffer und Franklin bereits auf uns warten. Es ist später Nachmit-238
tag, New York ist plötzlich arktisch kalt geworden. Auf dem Rockefeiler Center hat man die Eisbahn eröffnet, bald nach Thanksgiving wird die Weihnachtsdekoration leuchten. Frü-
her fand ich das immer kitschig und regelrecht unanständig.
Ich mochte den Kommerz nicht, die unechte Pracht, das Prot-zige daran. Ich bin für manische Dekoriererei einfach nicht katholisch genug.
Aber ich habe meine Meinung geändert. Jetzt finde ich zumindest verständlich, dass sich die New Yorker mit bunten Lichtern, Rentierattrappen und dem ganzen anderen Weih-nachtsirrsinn etwas Wärme in ihren megalomanischen Stahl-betonhaufen von einer Stadt holen. Dass sie in ihrem bunten Festtagskitsch die Unerbittlichkeit ihres Existenzkampfes überwinden. Dass sie scheinbar gedankenlos ihre Herzen mit triefender Musik, simplen Heilsbotschaften und Choles-terin verstopfen. Dass sie einem wiedergeborenen Christen und modernen Warlord ihr Land anvertrauen. All dies hat am Ende genauso viel Logik wie das Verhalten eines Naturvolkes im Amazonas-Dschungel. Und das ist doch tröstlich, in einer so hoch technologisierten und vermeintlich zivilisierten Welt.
Als wir zum Hotel kommen, wartet Franklin ungeduldig. Er hat unser Gepäck bereits verladen und hält uns die Türen auf, als wir um die Ecke biegen. Die Fahrt zum Flughafen JFK dauert heute länger. Es beginnt zu regnen, während wir an Tau-senden kleinen Queens-Häusern vorbeifahren, die alle gleich aussehen und schwach beleuchtet sind. Eine Stunde geht das so, dann sind wir am Flughafen, der sich endlos hinzieht und gelbes Licht in den Abenddunst schießt. Franklin schiebt unser Gepäck in die Halle, und ich gebe ihm ein großes Trinkgeld, meine letzten Scheine. Ich wünsche ihm einen richtig fetten Türken und stelle mich am Check-in an. Ich habe unsere 239
Reiseunterlagen und schiebe sie über den Schalter. Die Dame dahinter kontrolliert die Tickets und vergleicht sie mit den Namen auf einem Schriftstück. Das dauert. Zu lange. Finde ich.
«Stimmt was nicht?», frage ich sie. Ihr Verhalten macht mich nervös.
«Moment bitte.» Was ist denn jetzt noch los? Sie hebt das Telefon ab und spricht in den Hörer. Ich kann nicht verstehen, was sie sagt. Dann legt sie auf und lächelt mich an.
«Ist irgendwas nicht in Ordnung?» Ich habe auf dieser Reise zu viel erlebt, um jetzt cool zu bleiben.
«Einen Augenblick bitte, Mister Hamilton ist gleich hier.»
«Wer ist Mister Hamilton?»
Mister Hamilton ist der Mann, der nun von hinten auf uns zukommt. Ich werde meinen Rückflug verteidigen, ich werde auf jeden Fall in zwei Stunden in einem Flugzeug sitzen. Leg dich nicht mit mir an, Mann.
«Sind Sie Mister
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