Jane Christo - Blanche - 01
gebaut, bewegt er sich, belastet er die Beine. Und wie entschlossen ist er, denn nichts ist so aussagekräftig wie ein Blick in die Augen des Feindes.
Als der Clochard den Kopf hob, wusste sie, dass sie einen unverzeihlichen Fehler begangen hatte. Zwei türkisfarbene Juwelen funkelten ihr entgegen, die Iris mit goldenen Sprenkeln übersät. Doch der Blick war nicht auf sie, sondern in sie gerichtet. Wissend.
Jetzt erkannte sie auch, dass sein Haar nicht weiß, sondern hellblond war, geradezu silbrig. Und die Hände in den fingerlosen Handschuhen waren auch nicht die eines alten Mannes, sondern eines Kriegers: kräftig und zupackend.
Sie wollte zurückspringen, doch seine Hand schoss vor und ergriff die Fessel ihrer Kaffeehand. Er hielt sie umfangen, entschlossen, aber nicht brutal, während er den Pappbecher aus ihren verkrampften Fingern wand. Wärme durchströmte ihr Handgelenk, floss gemächlich den Arm hinauf, bis sie ihr Herz erreichte und sich von dort aus im ganzen Körper ausbreitete. Ihre angespannten Muskeln lockerten sich und sie wurde ruhig.
„Danke“, sagte er in tiefem Bariton und lenkte den Blick auf ihre freie Hand, die Richtung Beretta wanderte. „Das würde ich nicht tun, Leonie.“
Inmitten der Bewegung hielt sie inne und starrte ihn entsetzt an. Niemand außer Wayne kannte ihren richtigen Namen, den sie bis zu ihrem achten Lebensjahr getragen hatte. In der Nacht, als sie aus dem Heim geflohen war, hatte sie ihn wie einen alten Mantel abgelegt und sich von Andrej einen neuen geben lassen. Wayne war der einzige Mensch, der ihren Taufnamen kannte, weil er in den ersten Monaten ihres Zusammenlebens Erkundigungen über ihre Eltern eingezogen hatte. Vergebens.
Weder fand er eine Geburtsurkunde noch sonst ein amtliches Dokument, das bestätigte, dass in dieser Welt eine Leonie Dupont lebte. Er war sogar in ihr ehemaliges Heim eingebrochen, nur um festzustellen, dass es die Behörden bereits vor Jahren geschlossen hatten. Es war unmöglich, dass jemand ihren wahren Namen kannte, außer vielleicht …
„Miceal?“, fragte sie mit dünner Stimme.
Er lächelte und als er das tat, ging eine Sonne in ihrem Bauch auf. Gott, es musste verboten sein, so atemberaubend auszusehen – gegen ihn wirkte Zoey wie ein gerupftes Huhn. Die Enden seiner sinnlichen Lippen hoben sich, während seine Augen leuchteten, als würden sie von innen angestrahlt. Dazu passte das glatte Haar, das unter der Mütze hervorlugte und sein Gesicht wie eine Aureole umgab. Da nun keine Gefahr mehr bestand, dass sie ihre Waffe zog, gab er ihr Handgelenk frei. Doch statt Erleichterung zu spüren, fühlte sie sich seltsam verlassen.
„Komm, Leonie, ich möchte dir etwas zeigen.“
Mit einer anmutigen Bewegung erhob er sich und zog eine Kette aus dem Ausschnitt seines Mantels, an deren Ende ein unscheinbarer, silberner Schlüssel baumelte. Miceal wandte ihr den Rücken zu und schloss das Fach neben Waynes auf. Doch nicht nur die Tür der Nummer 218 schwang auf, sondern auch die drei darunter liegenden. Licht strömte aus dem Spalt und je weiter er die Fächer öffnete, desto heller wurde es in der Halle. Blanche sah sich um, doch niemand achtete auf sie – nicht einer sah zu ihnen herüber.
Als die drei Schließfachtüren sperrangelweit offen standen, ergriff Miceal ihre freie Hand und zog sie mit sich in das Licht.
Sie fiel, oder besser gesagt, rutschte. Ein Schrei formte sich in ihrem Hals, instinktiv griff sie nach der Waffe, während sie durch einen steil abfallenden Schacht schlitterte. Doch bevor sie die Beretta ziehen konnte, war ihre Rutschpartie auch schon vorbei und sie wurde in hohem Bogen auf einen lichtdurchfluteten Hügel gespuckt. Sie befanden sich auf einer grünen Anhöhe in Gesellschaft einer krummen Pinie, deren gebeugte Gestalt ein wenig Schatten spendete. Die Luft war sommerlich mild und eine leichte Brise wehte den Geruch von Sonne und Erde herbei. Unter ihnen breitete sich eine grasbewachsene Steppe aus, die bis zum Horizont reichte.
Miceal hockte sich im Schneidersitz unter den Baum und lehnte seinen breiten Rücken gegen die Rinde. Er schloss die Augen und atmete tief ein. „Das ist besser“, sagte er leise, dann sah er sie an und bedeutete ihr, ebenfalls Platz zu nehmen.
Blanche stellte sich breitbeinig vor ihn und verschränkte die Arme vor der Brust. „Was willst du von mir und warum bin ich hier?“ Sie war es nicht gewohnt, in Schließfächer zu kriechen und Schächte hinunterzurutschen. Wenn
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