Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
ins Gesicht spucken würden?«
»Sie alle zum Zimmer hinaustreiben, wenn ich könnte, Sir.«
Er lächelte vage. »Wenn ich nun aber hinüberginge, und sie kalte Blicke auf mich hefteten und einander spöttische Dinge zuflüsterten, und wenn dann einer nach dem anderen dieses Haus verließe – was dann? Würden auch Sie mit ihnen gehen?«
»Ich glaube nicht, Sir. Ich würde glücklich sein, wenn ich allein bei Ihnen bleiben dürfte.«
»Um mich zu trösten?«
»Ja, Sir, um Sie zu trösten, so gut ich es eben vermag.«
»Und wenn man Sie mit einem Bann belegte, weil Sie treu zu mir hielten?«
»Wahrscheinlich würde ich von diesem Bann nichts erfahren. Und selbst wenn, so würde ich mich wenig darum kümmern.«
»Sie würden es also um meinetwillen wagen, der öffentlichen Meinung zu trotzen?«
»Ich würde es um eines jeden Freundes willen tun, den ich für wert hielte. Ebenso wie Sie, Sir, dessen bin ich sicher.«
»Gehen Sie ins Esszimmer zurück; gehen Sie still und unbemerktzu Mason und flüstern Sie ihm ins Ohr, dass Mr. Rochester zurückgekehrt sei und mit ihm zu sprechen wünsche. Führen Sie ihn zu mir herein und verlassen Sie uns alsdann wieder.«
»Ja, Sir.«
Ich tat, wie er mir befohlen hatte. Die ganze Gesellschaft starrte mich an, als ich mitten durch sie hindurchschritt. Ich suchte Mr. Mason, richtete ihm jene Botschaft aus und ging dann ihm voran zum Zimmer hinaus. Vor der Tür der Bibliothek angekommen, öffnete ich ihm dieselbe und ging dann auf mein Zimmer.
Sehr spät in der Nacht, als ich schon längst mein Lager aufgesucht hatte, hörte ich, wie die Gäste sich auf ihre Zimmer begaben. Ich erkannte Mr. Rochesters Stimme und hörte ihn sagen: »Hier, Mason, dies ist dein Zimmer.«
Er klang fröhlich, und die klaren Töne beruhigten mein Herz. Bald schlief ich ein.
Zwanzigstes Kapitel
Ich hatte vergessen, die Vorhänge herabzulassen und die Fensterläden zu schließen. Das war ganz gegen meine sonstige Gewohnheit, und die Folge davon war, dass der strahlende Vollmond – es war eine herrliche, klare Nacht – mich mit seinem weißen Glanz weckte, als er auf seiner stillen Fahrt durch den Himmel an jene Stelle gelangte, die meinem Fenster gegenüberlag. Als ich mitten in der Nacht erwachte, fielen meine Blicke auf die silberweiße, kristallklare Scheibe. Es war schön, aber etwas zu feierlich. Ich erhob mich halb und streckte den Arm aus, um die Vorhänge ringsum zusammenzuziehen.
Guter Gott! Welch ein Schrei!
Die Nacht, die Stille und Ruhe wurden durch einen wilden, scharf-gellenden Ton zerrissen, der das Herrenhausvon Thornfield Hall von einem Ende bis zum anderen durchdrang.
Mein Puls hörte auf zu schlagen, mein ausgestreckter Arm war gelähmt und mein Herz stand still. Der Schrei erstarb, nichts weiter folgte. Und wirklich, welches Wesen diesen furchtbaren Schrei auch ausgestoßen haben mochte – es konnte ihn nicht so bald wiederholen; selbst der stolzeste, mächtigste Kondor der Anden hätte nicht vermocht, zweimal einen solch gellenden Schrei aus der Wolke herabzusenden, die seinen Horst einhüllt. Das Geschöpf, welches diesen Laut ausgestoßen hatte, musste ausruhen, bevor es dieselbe Anstrengung noch einmal machen konnte.
Der Schrei war aus dem dritten Stockwerk gekommen und war über meinen Kopf hinweggezogen. Und über mir – ja, gerade in dem Zimmer über dem meinen – hörte ich nun ein Ringen; dem Lärm nach zu urteilen, schien es ein tödlicher Kampf zu sein, und eine halb erstickte Stimme schrie dreimal hintereinander »Hilfe, Hilfe, Hilfe!«
»Kommt mir denn niemand zu Hilfe?«, rief es erneut.
Und während das Ringen, Stampfen und Schreien oben weiterging, hörte ich deutlich durch das Gebälk der Zimmerdecke die Worte:
»Rochester, Rochester! Um Gottes willen, komm!«
Eine Tür wurde geöffnet: Jemand stürzte lautlos, aber schnell wie von Furien gepeitscht durch die Galerie. Dann stampften andere Schritte über meinem Kopf, es folgte ein schwerer Fall, und dann war alles still.
Ich hatte schnell einige Kleidungsstücke übergeworfen, obgleich ich vor Entsetzen an allen Gliedern bebte. Jetzt trat ich aus meinem Zimmer heraus. Alle Schläfer waren aufgewacht: Rufe, erschreckte Stimmen tönten aus allen Zimmern. Eine Tür nach der anderen wurde aufgerissen, jemand schaute hinaus, dann ein zweiter, bald füllte sich die Galerie. Sowohl Herren wie Damen hatten ihre Betten verlassen, und von allen Seiten hörte man wirre Stimmen: »Wasgibt’s?« –
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