Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
verstellte Stimme aufgefallen, und ich hatte bemerkt, welche Mühe sie sich gab, ihre Züge zu verbergen. Aber ich hatte an Grace Poole gedacht – an jenes lebende Rätsel, jenes Geheimnis aller Geheimnisse, wie sie mir stets erschien. Mr. Rochester war mir allerdings nicht in den Sinn gekommen.
»Nun«, sagte er, »woran denken Sie? Was bedeutet dieses melancholische Lächeln?«
»Ich bin ziemlich verwundert und ich beglückwünsche mich selbst, Sir! Aber jetzt werden Sie hoffentlich erlauben, dass ich mich zurückziehe?«
»Nein, verweilen Sie noch einen Augenblick, um mir zu erzählen, was meine Gäste im Salon so treiben!«
»Vermutlich unterhalten sie sich noch über die Zigeunerin.«
»Setzen Sie sich! Lassen Sie mich hören, was jene über mich sprachen.«
»Es ist nicht ratsam, noch lange zu verweilen, Sir. Es muss bald elf Uhr sein. Oh, wissen Sie denn überhaupt, Mr. Rochester, dass während Ihrer Abwesenheit ein Fremder hier eingetroffen ist?«
»Ein Fremder? Nein, wer kann das sein? Ich erwarte niemanden. Ist er wieder fort?«
»Nein. Er sagte, dass er Sie seit langen Jahren kenne und sich daher die Freiheit nehmen dürfe, bis zu Ihrer Rückkehr zu warten.«
»Zum Teufel mit ihm! Hat er seinen Namen genannt?«
»Sein Name ist Mason, Sir, und er kommt aus Westindien, aus Spanish Town auf Jamaika, wenn ich nicht irre.«
Mr. Rochester stand neben mir; er hatte meine Hand gefasst, wie um mich zu einem Sessel zu führen. Als ich die letzten Worte sprach, packte er mein Gelenk wie im Krampf. Das Lächeln auf seinen Lippen erstarrte; es war, als hätte ein Anfall ihm den Atem geraubt.
»Mason! Westindien!«, sagte er, und die Worte entrangen sich seinen Lippen ungefähr so, wie ein redender Automat sie gesprochen haben würde. »Mason, Westindien«, wiederholte er mechanisch immer wieder und wurde dabei bleich wie ein Toter. Er schien kaum noch zu wissen, was er tat und was um ihn herum vorging.
»Fühlen Sie sich krank, Sir?«, fragte ich.
»Jane, das ist ein Schlag für mich, ein furchtbarer Schlag, Jane!«, stammelte er.
»Oh, Sir! Lehnen Sie sich an mich.«
»Jane, Sie haben mir schon einmal Ihre Schulter geboten; ich brauche sie wieder.«
»Ja, Sir, und meinen Arm.«
Er setzte sich, und ich musste mich ihm zur Seite setzen. Er streichelte meine Hand, die er in der seinen hielt. Dann heftete er einen traurigen, müden Blick auf mich, der aber dennoch liebevoll war.
»Meine kleine Freundin!«, sagte er, »ich wollte, ich wäre allein mit Ihnen auf einer stillen, einsamen Insel, wo die trüben Erinnerungen, wo Ärger und Gefahr fern sind.«
»Kann ich Ihnen helfen, Sir? Ich würde mein Leben geben, Ihnen zu dienen.«
»Jane, wenn ich Hilfe brauche, werde ich sie bei Ihnen suchen, das verspreche ich Ihnen.«
»Ich danke Ihnen, Sir. Sagen Sie nur, was ich tun soll – ich werde wenigstens versuchen, es zu erfüllen.«
»Gut, Jane, holen Sie mir ein Glas Wein aus dem Speisesaal, sie werden dort jetzt beim Abendessen sein. Und sagen Sie mir dann, ob auch Mason unter ihnen ist und was er in diesem Augenblick tut.«
Ich ging. Wie Mr. Rochester vorhergesagt hatte, fand ich die ganze Gesellschaft im Speisezimmer beim Essen. Man saß aber nicht an der Tafel – das Mahl war auf der Anrichte aufgestellt, jeder hatte sich genommen, was ihm gefiel, und mit den Tellern und Gläsern in der Hand standen die Gäste in Gruppen beieinander. Alle schienen in bester Laune zu sein. Laut klangen das Gelächter und die allgemeine Unterhaltung mir entgegen. Mr. Mason stand am Kamin und sprach mit Colonel Dent und seiner Gemahlin; er schien der Fröhlichste unter allen. Ich ging und füllte ein Weinglas – Miss Ingram beobachtete mich dabei stirnrunzelnd, sicher war sie der Ansicht, dass ich mir eine große Freiheit erlaubte – und kehrte dann in die Bibliothek zurück.
Mr. Rochesters außergewöhnliche Blässe war verschwunden,und er schien die alte Ruhe und Festigkeit wiedererlangt zu haben. Er nahm mir das Glas aus der Hand.
»Dies auf Ihr Wohl, hilfreicher Geist!«, sagte er, trank den Inhalt in einem Zug aus und gab mir das Glas zurück. »Was tut man da drüben, Jane?«
»Sie lachen und sprechen, Sir.«
»Sehen sie nicht ernst und geheimnisvoll aus, als hätten sie soeben eine seltsame Geschichte erlebt?«
»Durchaus nicht: Sie scherzen, lachen und unterhalten sich auf das Lebhafteste.«
»Und Mason?«
»Er lacht auch.«
»Jane, was würden Sie tun, wenn all jene Leute hier einträten und mir
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