Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
ich.
»Sind Sie wach?«, fragte die Stimme, welche ich zu hören erwartet hatte, nämlich diejenige meines Herrn.
»Ja, Sir.«
»Und angekleidet?«
»Ja.«
»Dann kommen Sie heraus, aber leise.«
Ich gehorchte. Mr. Rochester stand in der Galerie, in der Hand hielt er eine brennende Kerze.
»Ich brauche Sie«, sagte er, »kommen Sie mit mir, aber lassen Sie sich Zeit und machen Sie keinen Lärm.«
Meine Schuhe waren dünn und leicht. Ich schlich über die mit Teppichen belegten Dielen so leise wie eine Katze. Er ging durch die Galerie, die Treppe hinauf und hielt in dem niedrigen, düsteren Korridor des verhängnisvollen dritten Stockwerks inne. Ich war ihm gefolgt und stand an seiner Seite.
»Haben Sie einen Schwamm in Ihrem Zimmer?«, fragte er im Flüsterton.
»Ja, Sir.«
»Haben Sie auch irgendein Salz – Riechsalz?«
»Gewiss.«
»Gehen Sie zurück und holen Sie beides.«
Ich ging zurück, suchte den Schwamm auf dem Waschtisch und das Riechsalz in meiner Kommode, und schlich noch einmal auf demselben Wege zurück. Er wartete noch auf mich, in der Hand hielt er einen Schlüssel. Dann ging er zu einer der kleinen, schwarzen Türen und steckte den Schlüssel ins Schloss, hielt aber plötzlich inne, wandte sich zu mir und fragte:
»Wird Ihnen unwohl beim Anblick von Blut?«
»Ich glaube nicht, aber ich war noch niemals in einer solchen Lage.«
Ein Schaudern überlief mich, als ich ihm diese Antwort gab, aber es war weder Kälte noch Übelkeit.
»Dann geben Sie mir Ihre Hand«, sagte er. »Es ist doch besser, es nicht auf eine Ohnmacht ankommen zu lassen.«
Ich legte meine Hand in die seine. »Sie ist warm und zittert nicht«, bemerkte er. Dann drehte er den Schlüssel im Schloss um und öffnete die Tür.
Vor mir sah ich ein Zimmer, das ich schon einmal gesehen hatte – an jenem Tage, als Mrs. Fairfax mir das ganze Haus zeigte. Der Raum war ringsum mit schweren Gobelins behängt, jetzt waren die Gobelins aber an einer Stelle aufgerafft, und es war eine früher verborgene Tür sichtbar. Diese Tür stand offen, und ein Lichtstrahl drang aus dem inneren Raum. Von dort kam ein schnappender, knurrender Ton, der fast wie das Knurren eines Hundes klang. Indem Mr. Rochester die Kerze auf den Tisch stellte, sagte er zu mir »Warten Sie einen Augenblick!«, und ging dann in das innere Gemach. Ein grelles Lachen begrüßte ihn bei seinem Eintritt; zuerst war es lärmend und tobend, aber es endete in Grace Pooles eigenartigem, gnomenhaften »Hahaha!« – Sie war also da. Er traf irgendein Arrangement ohne zu sprechen, obgleich ich eine leise Stimme vernahm, die ihn anredete. Dann kam er heraus und schloss die Tür hinter sich.
»Hierher, Jane!«, sagte er, und ich folgte ihm an die andere Seite eines großen Bettes, welches mit seinen faltenreichenVorhängen einen großen Teil des Zimmers einnahm. Am Kopfende des Bettes stand ein Lehnstuhl, und auf diesem saß ein Mann, welcher bis auf den Mantel vollständig bekleidet war. Er war bewegungslos, sein Kopf war zurückgesunken, die Augen waren geschlossen. Mr. Rochester hielt das brennende Licht über ihn. In dem bleichen und anscheinend leblosen Gesicht erkannte ich den Fremden, Mr. Mason, wieder. Ich sah auch, dass sein Hemd an der einen Seite vollständig von Blut durchtränkt war.
»Halten Sie das Licht«, sagte Mr. Rochester, und ich nahm es. Er holte eine Schüssel mit Wasser vom Waschtisch. »Halten Sie dies«, sagte er. Ich gehorchte. Er nahm den Schwamm, tauchte ihn ins Wasser und befeuchtete das leichenblasse Gesicht. Dann verlangte er mein Riechfläschchen und hielt es Mr. Mason unter die Nase. Bald darauf öffnete dieser die Augen und stöhnte vor Schmerz. Mr. Rochester öffnete das Hemd des Verwundeten, dessen Arm und Schulter verbunden waren, und wusch das aus der Wunde hervorsickernde Blut ab.
»Ist es gefährlich?«, fragte Mr. Mason mit matter Stimme.
»Bah! Nein, das ist bloß ein Kratzer. Lass dich doch nicht so umwerfen, Mensch! Kopf hoch! Ich werde einen Arzt holen, und morgen können wir dich hoffentlich schon transportieren. Jane …«, fuhr er fort.
»Sir?«
»Ich bin gezwungen, Sie für ungefähr eine Stunde mit diesem Herrn allein zu lassen – vielleicht werden auch zwei Stunden daraus. Sie werden das austretende Blut abwaschen, wie ich es hier tue. Wenn er ohnmächtig wird, führen Sie das Glas, welches auf jenem Tisch steht, an seine Lippen und das Riechsalz an seine Nase. Sie dürfen unter keinen Umständen mit ihm reden –
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