Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
kennen Sie ihn vielleicht?«
»Mr. Mason kennt ihn. Mr. Eyre ist jahrelang der Geschäftsfreund seines Hauses in Funchal gewesen. Als Ihr Onkel jenen Brief von Ihnen erhielt, in welchem Sie von Ihrer beabsichtigten Verbindung mit Mr. Rochester schrieben,befand Mr. Mason sich gerade zur Wiederherstellung seiner angegriffenen Gesundheit auf Madeira, wo er einige Wochen bei Ihrem Onkel zuzubringen beabsichtigte, bevor er nach Jamaika zurückkehrte. Im Laufe des Gesprächs erwähnte Mr. Eyre zufällig diese Ihre Nachricht, denn er wusste sehr wohl, dass mein Klient hier mit einem Herrn namens Rochester bekannt ist. Mr. Mason, welcher, wie Sie sich wohl vorstellen können, ebenso erstaunt wie bestürzt war, enthüllte die ganze Lage der Dinge. Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihr Onkel jetzt auf dem Krankenbett liegt, von welchem er sich wahrscheinlich niemals wieder erheben wird, wenn man die Natur seiner Krankheit – es ist die Schwindsucht – und das Stadium, welches dieselbe bereits erreicht hat, in Betracht zieht. Er selbst konnte also nicht nach England eilen, um Sie aus der Schlinge zu befreien, in welche Sie geraten waren, aber er flehte Mr. Mason an, keinen Augenblick Zeit zu verlieren, sondern sofort die nötigen Schritte zu tun, um diese ungültige Heirat zu verhindern. Er wies ihn an mich und ersuchte um meine Beihilfe. Ich wandte die größte Eile an und bin glücklich, dass ich nicht zu spät gekommen bin. Und Sie sind zweifellos ebenfalls glücklich. Wenn ich nicht so fest überzeugt wäre, dass Ihr Onkel tot ist, bevor Sie Madeira erreichen, so würde ich Ihnen raten, mit Mr. Mason zusammen die Reise dorthin anzutreten. Aber wie die Sachen liegen, halte ich es für besser, wenn Sie in England bleiben, bis Sie entweder von oder über Mr. Eyre Nachricht erhalten haben. – Warten wir noch auf irgendetwas?«, wandte er sich daraufhin an Mr. Mason.
»Nein, nein! Lassen Sie uns eilen, dass wir fortkommen«, lautete die angsterfüllte Antwort. Und ohne zu warten und sich von Mr. Rochester zu verabschieden, schritten sie zur Tür der großen Halle hinaus. Der Prediger blieb noch, um seinem hochmütigen Gemeindemitglied ein paar Worte entweder des Trostes oder des Tadels zu sagen. Als diese seine Pflicht getan war, ging auch er fort.
Ich hörte ihn gehen, als ich an der halb geöffneten Tür meines Zimmers stand, in welches ich mich zurückgezogen hatte. Nachdem es im Haus ruhig geworden war und ich alle Fremden fort wusste, schloss ich mich ein, schob den Riegel vor, damit niemand mich stören konnte, und begann – nicht zu weinen, nicht zu jammern und zu trauern, denn dazu war ich zu ruhig: Ich begann mechanisch, mein Hochzeitskleid auszuziehen und es durch das wollene Gewand zu ersetzen, welches ich noch am vorangegangenen Tag getragen hatte. Gestern hatte ich noch gehofft, ich trüge es zum letzten Mal. Dann setzte ich mich. Ich fühlte mich müde und schwach, verschränkte die Arme auf dem Tisch und legte meinen Kopf darauf. Und nun begann ich
nachzudenken
. Bis zu diesem Augenblick hatte ich nur zugehört und zugesehen, ich hatte mich bewegt, war hinauf- und hinuntergelaufen, wohin man mich geführt oder gezogen hatte; ich hatte beobachtet, wie eine fürchterliche Begebenheit der nächsten folgte, wie auf eine grausige Enthüllung eine weitere kam – aber erst jetzt begann ich zu denken.
Der Morgen war mit Ausnahme des kurzen Auftrittes mit der Wahnsinnigen ziemlich ruhig gewesen. Die Verhandlung in der Kirche war ohne Lärm vor sich gegangen. Keine Ausbrüche der Leidenschaft, kein lauter Wortwechsel, kein Streit, keine Herausforderung, keine Weigerung, keine Tränen, kein Schluchzen! Nur wenige Worte waren gesprochen worden: eine ruhig ausgesprochene Einwendung gegen die Heirat, einige harte Fragen von Mr. Rochesters Seite. Antworten und Erklärungen wurden gegeben, Beweise beigebracht. Mein Herr und Gebieter hatte die Wahrheit offen eingestanden, und dann hatten wir den lebenden Beweis gesehen. Und jetzt waren all jene Eindringlinge wieder fort, und alles war vorüber.
Ich war wie gewöhnlich in meinem Zimmer – nur ich allein, ohne die geringste sichtbare Veränderung. Ich war nicht verwundet oder verletzt, niemand hatte mich geschlagen,niemand hatte mich beschimpft. Und doch: Wo war die Jane Eyre von gestern, wo war ihr Leben, wo ihre Hoffnungen für die Zukunft?
Jane Eyre, die eine liebende, erwartungsvolle Frau, ja beinahe schon eine Braut gewesen war, war nun wieder ein
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