Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
mein anhaltendes Schweigen, meine augenscheinliche Ruhe. Sie entsprangen mehr meiner Schwäche als meinem Willen.
»Ja, Sir.«
»Dann sag es mir geradeheraus mit harten Worten. Schone mich nicht!«
»Ich kann nicht. Ich bin müde und krank, ich möchteeinen Schluck Wasser haben!« Er stieß einen schaudernden Seufzer aus, dann nahm er mich in seine Arme und trug mich hinunter. Anfangs wusste ich nicht, in welches Zimmer er mich getragen hatte; alles war trübe vor meinen verglasten Augen. Doch bald empfand ich die belebende Wärme eines Feuers, denn obwohl es Sommer war, war mir in meinem Zimmer eiskalt geworden. Er hielt ein Glas Wein an meine Lippen, ich nippte davon und fühlte neue Kräfte zurückkehren. Dann aß ich etwas, das er mir brachte, und bald war ich wieder ich selbst. Ich war im Bibliothekszimmer und saß in seinem Stuhl; er war mir ganz nahe.
›Wenn ich jetzt aus diesem Leben gehen könnte, ohne einen zu jähen Schmerz, so würde mir wohl sein‹, dachte ich. ›Dann müsste ich nicht die Anstrengung vollbringen, mein Herzensband von Mr. Rochester loszureißen. Ich
muss
ihn verlassen, das steht wohl fest. Aber ich will ihn nicht verlassen, und ich kann ihn nicht verlassen!‹
»Wie fühlst du dich jetzt, Jane?«
»Viel besser, Sir. Bald wird mir ganz wohl sein!«
»Koste noch einmal von dem Wein, Jane.«
Ich tat, wie er befahl, und er stellte das Glas anschließend wieder auf den Tisch. Nun stand er vor mir und betrachtete mich aufmerksam. Plötzlich wandte er sich mit einem unterdrückten Aufschrei ab, in dem sich alle Leidenschaft Luft machen wollte. Dann schritt er im Zimmer auf und ab, kam aber bald zu mir zurück und beugte sich nieder, als wollte er mich küssen. Mir fiel jedoch ein, dass alle Liebkosungen jetzt verboten sein müssten; ich wandte daher den Kopf fort und schob ihn beiseite.
»Was, was soll das bedeuten?«, rief er hastig aus. »Oh, ich weiß, du willst den Gatten jener Bertha Mason nicht küssen? Du meinst, ich halte schon ein Wesen in meinem Arm, dem meine Liebkosungen gebühren?«
»Auf jeden Fall, Sir, ist hier kein Raum mehr für mich, und ich habe keine Rechte.«
»Warum, Jane? Ich will dir die Mühe vieler Worte ersparen, ich will für dich antworten. Nicht wahr, du wolltest mir entgegnen, dass ich bereits eine Gattin habe? Habe ich recht geraten?«
»Ja.«
»Wenn du das meinst, so musst du eine seltsame Meinung von mir haben. Du musst mich für einen Ränke schmiedenden Bösewicht halten, für einen niedrigen, gemeinen Schurken, der dir reine, hingebende Liebe geheuchelt hat, um dich in eine wohlüberlegte und vorbereitete Schlinge zu locken und dir deine Ehre und Selbstachtung zu rauben. Was hast du mir jetzt zu antworten? Ich sehe, dass du gar nichts sagen kannst. Erstens bist du noch immer matt und kraftlos und hast genug zu tun, um atmen zu können, und zweitens kannst du dich noch nicht daran gewöhnt haben, mich zu beschuldigen und zu verlästern. Außerdem sind die Tränenschleusen jetzt geöffnet und sie würden überströmen, wenn du zu viel sprächest. Du hegst auch nicht den Wunsch, mir Vorwürfe zu machen, mich zur Rede zu stellen, eine Szene herbeizuführen. Du denkst darüber nach, wie du zu
handeln
hast – denn das
Reden
hältst du für nutzlos. Ich kenne dich – ich bin auf der Hut.«
»O Sir, ich bin nicht gesonnen,
gegen
Sie zu handeln«, sagte ich, und meine unsichere Stimme zeigte mir, wie gut es sein würde, mich so kurz wie möglich zu fassen.
»Nicht in
deinem
Sinne des Wortes, aber in dem
meinen
gedenkst du, mich zu vernichten. Du hast so gut wie ausgesprochen, dass ich ein verheirateter Mann bin – dem verheirateten Mann willst du ausweichen, ihm aus dem Weg gehen, soeben hast du dich schon geweigert, mir einen Kuss zu geben. Du hast die Absicht, dich mir vollständig zu entfremden und unter diesem Dach nur noch als Adèles Gouvernante weiterzuleben. Und wenn ich dir ein freundliches Wort sage, wenn jemals ein freundschaftliches Gefühl dich wieder zu mir zieht, so wirst du sagen: ›Dieser Mann hättemich beinahe zu seiner Mätresse gemacht, für ihn darf ich nur noch Eis und Marmor sein‹ – und folglich wirst du Eis und Marmor werden.«
Ich räusperte mich und versuchte meine Stimme zu festigen, um ihm zu antworten: »Alles um mich her und für mich ist verändert, Sir, so muss auch ich eine andere werden. Daran ist kein Zweifel, und um den Schwankungen meines Gefühls vorzubeugen, um fortwährende Kämpfe mit der
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