Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
kühles, einsames Mädchen. Ihr Leben war farblos, ihre Aussichten trostlos. Ein harter Winterfrost war um die Mittsommerzeit gekommen, ein scharfer Dezembersturm war durch den Juni gebraust. Reif lag auf den heranreifenden Früchten, Schneewehen hatten die knospenden Rosen erdrückt. Ein eisiges Leichentuch lag über blühenden Wiesen und wogenden Kornfeldern; Heckenwege, die gestern noch im blühenden Blumenschmuck prangten, waren heute verschneit und unwegsam. Und die Wälder, welche vor zwölf Stunden noch duftig und schattig rauschten wie tropische Haine, lagen nun weit und wild und weiß da wie Tannenwälder im winterlichen Norwegen. All meine Hoffnungen waren tot – gestorben unter einem grausamen Urteil, so wie es in einer einzigen Nacht all die Erstgeborenen Ägyptens befallen hatte. Ich sah auf meine teuersten Wünsche, gestern noch so prangend und üppig: Sie lagen da wie kalte, starre, bleiche Tote, die nichts mehr zum Leben erwecken konnte. Und dann blickte ich auf meine Liebe: jene Empfindung, die meinem Herrn gehörte, die er geweckt hatte. Sie lebte in meinem Herzen wie ein krankes Kind in einer kalten, harten Wiege; Angst und Krankheit hatten sie erfasst; sie durfte Mr. Rochesters Arm nicht mehr suchen, sie konnte nicht mehr Lebenswärme an seiner Brust finden. Oh, nimmermehr durfte sie zu ihm flüchten, denn der Glaube war dahin, das Vertrauen zerstört! Mr. Rochester war für mich nicht mehr, was er gewesen, denn er war nicht das, wofür ich ihn gehalten hatte. Ich wollte ihm nicht Lasterhaftigkeit beimessen, ich wollte nicht sagen, dass er mich betrogen hätte, aber mit dem Gedanken an ihn verband ich nicht mehr das Attribut fleckenloser Wahrheit.Und nun musste ich fort aus seiner Nähe –
das
wenigstens empfand ich klar. Wann, wie, wohin – das sah ich noch nicht. Aber ich zweifelte nicht daran, dass er selbst mich so schnell wie möglich von Thornfield fortschicken würde. Wahre Liebe, so schien es mir, konnte er doch unmöglich für mich gehegt haben. Es war nur eine vorübergehende Leidenschaft gewesen, deren Befriedigung vereitelt worden ist; jetzt würde er meiner nicht mehr bedürfen! Ich fürchtete mich sogar, jetzt seinen Weg zu kreuzen: Mein Anblick musste ihm verhasst sein. Oh, wie blind waren meine Augen gewesen, wie jämmerlich schwach mein Verhalten!
Mein Kopf lag noch auf meinen Armen, meine Augen waren geschlossen. Wirbelnde Dunkelheit schien mich zu umgeben; wie eine schwarze, schlammige Flut stürzten die Gedanken auf mich ein. Machtlos, zu schwach für jegliche Anstrengung, war mir, als läge ich in dem ausgetrockneten Flussbett eines großen Stromes: Ich hörte, wie der rauschende Sturzbach von fernen Gletschern heranbrauste, ich fühlte, wie die Flut kam, aber ich hatte nicht den Mut, mich zu erheben, nicht die Kraft zur Flucht. Ohnmächtig lag ich da und sehnte mich nur nach dem Tod. Nur noch ein einziger lebendiger Gedanke war in mir: der Gedanke an Gott. Er ließ ein stummes Gebet in mir entstehen; die Worte zogen in meiner verdüsterten Seele auf und nieder wie etwas, das geflüstert werden sollte, aber ich hatte nicht die Energie, sie auszusprechen: ›Bleib bei mir, oh Gott, denn die Prüfung ist nahe und kein Helfer da!‹
Die Prüfung war nahe, aber da ich keine Bitte zum Himmel gesandt hatte, sie von mir abzuwenden – da ich weder die Hände gefaltet, noch das Knie gebeugt oder die Lippen bewegt hatte –, da kam sie: In großen, schweren Wogen brauste der Strom über mich fort. In einer grauen, fürchterlichen Masse strömte das Bewusstsein meines zerstörten Lebens, meiner verlorenen Liebe, meiner erloschenen Hoffnung, meines toten Glaubens auf mich ein. Jene bittereStunde kann ich nicht beschreiben: ›Die Wasser strömten in meine Seele; ich sank in einen tiefen Sumpf, ich hatte keine Stütze, keinen Grund mehr, ich kam in die Tiefe und die Fluten brausten über mich fort.‹
Siebenundzwanzigstes Kapitel
Irgendwann am Nachmittag hob ich wieder den Kopf, und als ich umherblickte und sah, wie die letzten Strahlen der untergehenden Sonne auf die Wand meines Zimmers fielen, da fragte ich mich: ›Was soll ich jetzt beginnen?‹
Aber die Antwort, welche mein Verstand mir gab: ›Verlasse Thornfield sofort!‹, kam so schnell, so furchtbar schnell, dass ich mir die Ohren zuhielt. Ich sagte mir, dass ich solche Worte jetzt nicht hören könne. ›Dass ich nicht Edward Rochesters Gattin bin, ist der geringste Teil meiner Leiden‹, versicherte ich mir.
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