Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
selbst dann noch keinen Vorwurf, als ich fühlte, dass ich nicht einen einzigen Abend, nein, nicht einmal eine einzige Stunde in Behagen und Ruhe mit ihr verbringen konnte; dass ein freundliches Gespräch zwischen uns unmöglich war, weil sie jedem Gegenstand sofort ein rohes, gemeines Gepräge verlieh – selbst dann noch nicht, als ich merkte, dass ich niemals einen ruhigen, geordneten Haushalt haben würde, weil kein Dienstbote die fortwährenden Ausbrüche ihrer heftigen, unvernünftigen Launen oder die Quälereien ihrer abgeschmackten, widersprüchlichen, herrischen Befehle ertragen konnte. Noch immer beherrschte ich mich ihr gegenüber! Ich vermied alle Vorwürfe, ich machte nur leise Gegenvorstellungen; ich versuchte im Geheimen, meinen Ekel zu überwinden und mit meiner Reue fertig zu werden. Ich unterdrückte den tiefen Widerwillen, welchen ich empfand.
Jane, ich will dich nicht mit abscheulichen Einzelheiten quälen, aber einige deutliche Worte sollen ausdrücken, was ich zu sagen habe. Mit dem Weibe dort oben habe ich vier Jahre lang gelebt, und vor Ablauf dieser Zeit hatte sie meine Kräfte bereits auf die härtesten Proben gestellt. Ihr Charakter reifte und entwickelte sich mit der furchtbarsten Schnelligkeit; ihre Laster wucherten; sie waren so stark, dass nur Grausamkeit ihnen Einhalt zu tun vermochte – und Grausamkeit wollte ich nicht anwenden. Wie gering war ihr Verstand und wie monströs waren ihre bösen Neigungen. Wie furchtbar der Fluch, den diese Neigungen auf mich häuften! Bertha Mason – die echte, würdige Tochter einer abscheulichen Mutter – schleppte mich durch all die entwürdigenden und fürchterlichen Kämpfe, welche ein Mann durchzumachen hat, der an ein Weib gebunden ist, welches zugleich zügellos und unzüchtig ist.
Inzwischen war mein Bruder gestorben, und nach Ablauf jener vier Jahre starb mein Vater ebenfalls. Jetzt war ich reich genug – und doch der grässlichsten Armut verfallen. Eine Natur so roh, so unrein, so depraviert, wie ich niemals eine zweite gesehen habe, war an mich gebunden, und sowohl die Gesellschaft wie das Gesetz nannten sie einen Teil von mir. Und ich konnte mich durch kein gesetzliches Vorgehen von ihr befreien, denn jetzt entdeckten die Ärzte, dass
meine Frau
wahnsinnig sei. Ihre Exzesse hatten die Keime des Wahnsinns vor der Zeit in ihr reifen lassen. Jane, meine Erzählung erfüllt dich mit Widerwillen; du siehst krank aus – soll ich das Ende für einen anderen Tag aufsparen?«
»Nein, Sir, kommen Sie jetzt damit zu Ende. Sie tun mir so leid, so aufrichtig leid.«
»Mitleid, Jane, ist von manchen Menschen ein trauriger und beleidigender Tribut, welchen man berechtigt ist, demjenigen ins Gesicht zurückzuschleudern, der ihn darbringt. Aber das ist jene Art von Mitleid, welches von harten,selbstsüchtigen Herzen gespendet wird; es ist nur ein egoistischer, bastardartiger Schmerz beim Anhören fremder Schmerzen, welcher eine Mischung von Verachtung enthält gegen jene, die sie ertragen haben. Aber solcherart ist dein Mitleid nicht, Jane; in diesem Augenblick durchzuckt der Jammer dein ganzes Gesicht – deine Augen fließen über, dein Herz erbebt, deine Hand zittert in der meinen. Dein Mitleid, mein Liebling, ist die schmerzensreiche Mutter der Liebe, deine Ängste sind die Geburtswehen jener göttlichen Leidenschaft. Ich nehme es an, Jane, dieses Mitleid – mach dem Spross des Mitleids die Bahn frei – ich harre mit offenen Armen!«
»Fahren Sie jetzt fort, Sir! Was taten Sie, als Sie fanden, dass sie wahnsinnig sei?«
»Jane, ich stand am Rande der Verzweiflung. Zwischen dem Abgrund und mir stand nur noch ein kleiner Rest von Selbstachtung. In den Augen der Welt stand ich wahrscheinlich als entehrt da, aber ich beschloss, wenigstens vor meinen eigenen Augen rein zu bleiben, indem ich mich bis zum letzten Augenblick gegen die Besudelung mit ihren Verbrechen wehrte. Und dennoch verband die Gesellschaft ihren Namen mit dem meinen, meine Person mit der ihren. Ich sah und hörte sie täglich, ihr Atem verpestete die Luft, welche ich einatmete, und ich wurde unaufhörlich daran erinnert, dass ich einst ihr Gatte gewesen war. Diese Erinnerung war schon damals und ist noch heute unbeschreiblich ekelerregend für mich. Und mehr noch – ich wusste, dass, solange sie lebte, ich niemals der Gatte einer anderen und besseren Frau werden konnte. Und obgleich sie fünf Jahre älter war als ich – ihre Familie und mein Vater hatten mich sogar in Bezug
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