Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
auf ihr Alter belogen –, war es doch wahrscheinlich, dass sie ebenso lange leben würde wie ich, da sie ebenso stark an Körper wie schwach an Geist war. So stand ich mit sechsundzwanzig Jahren ohne Hoffnungen da. Eines Nachts wurde ich durch ihr Kreischen geweckt – seitdie medizinischen Autoritäten sie für wahnsinnig erklärt hatten, war sie natürlich eingeschlossen. Es war eine glühende westindische Nacht, eine von jener Art, wie sie oft den Orkanen jener Gegenden vorausgehen. Da es mir unmöglich war, im Bett zu schlafen, war ich aufgestanden und hatte das Fenster geöffnet. Die Luft glich Schwefeldämpfen – nirgends waren Erfrischung und Abkühlung zu finden. Moskitos kamen hereingeflogen und schwirrten geräuschvoll im Zimmer umher. Das Meer, dessen Rauschen ich hören konnte, rollte dumpf wie ein Erdbeben; schwarze Wolken stiegen empor, und der Mond versank in ihnen, groß und rot wie eine glühende Kanonenkugel. Er warf seinen letzten blutroten Blick auf eine Welt, welche unter dem Gären des Sturms erbebte.
Ich spürte dieses Bild und diese Atmosphäre beinahe körperlich, und in meinen Ohren gellten die Wutschreie, welche die Wahnsinnige fortwährend ausstieß. Meinen Namen brüllte sie in Tönen dämonischen Hasses, und sie fügte ihm furchtbare Worte hinzu. Das abgefeimteste Weib bediente sich nicht so erschütternder Ausdrücke, von denen sie stets einen großen Vorrat hatte. Obgleich sie durch zwei Zimmer von mir getrennt war, gestatteten die dünnen Wände des westindischen Hauses doch, dass ihr tierisches Brüllen bis zu mir drang.
›Dieses Leben‹, sagte ich endlich, ›ist die Hölle! Dies ist die Luft – jenes ist das Toben des bodenlosen Abgrundes! Ich habe ein Recht, mich daraus zu befreien, wenn ich es denn kann. Die Qualen dieses Lebens werden von mir weichen mit dem irdischen Fleisch, das jetzt auf meiner Seele lastet. Vor dem ewigen Fegefeuer der Eiferer hege ich keine Furcht; kein zukünftiger Zustand kann furchtbarer sein als der gegenwärtige. Ich will fort, ich will heim zu Gott!‹
Während ich dies sagte, kniete ich nieder und schloss einen Koffer auf, welcher ein Paar geladener Pistolen enthielt. Ich wollte mich erschießen. Aber nur für einenAugenblick hegte ich diese Absicht; denn da ich nicht wahnsinnig war, ging diese Krisis der äußersten, echten Verzweiflung, welche den Wunsch und die Absicht der Selbstzerstörung erzeugt hatte, in einer Sekunde vorüber.
Ein frischer Wind von Europa her strich über den Ozean und strömte durchs offene Fenster. Der Sturm brach aus, der Regen stürzte in Bächen herab, es donnerte, blitzte – und die Luft wurde rein. Da fasste ich einen Entschluss. Während ich unter den triefenden Orangenbäumen meines feuchten Gartens umherging, zwischen den Granatäpfeln und den Ananas, während der strahlende Tag der Tropen um mich her anbrach, überlegte ich mir etwas. – Jane, jetzt höre mir gut zu, denn es war die tiefste Weisheit, die mich in jener Stunde tröstete und mir den rechten Weg zeigte, den ich wandeln sollte: Der süße Wind von Europa her flüsterte noch in dem erfrischten Laub, und der Atlantische Ozean brauste in erhabener Freiheit. Mein Herz, seit langer Zeit welk und verschrumpft, schwoll bei jenen Tönen, frisches, lebendiges Blut durchfloss es wieder, mein ganzes Ich verlangte eine Wiedergeburt, meine Seele dürstete nach einem frischen Trank. Ich sah die Hoffnung sich neu beleben, ich fühlte, dass eine Wiedergeburt möglich sei. Von einer blütenbedeckten Laube am Ende meines Gartens blickte ich auf das Meer, das blauer war als der Himmel: Da drüben lag die Alte Welt! Klare Aussichten eröffneten sich mir.
›Geh‹, sagte die Hoffnung, ›und lebe wieder in Europa! Dort weiß niemand, welch besudelten Namen du trägst, und auch nicht, welche schmutzige Last du mit dir schleppst. Du kannst die Wahnsinnige mit dir nach England nehmen; schließe sie mit pflichtgetreuen Wärtern und mit der nötigen Vorsicht in Thornfield ein. Dann geh du selbst, in welche Gegend du willst, und schließe neue Bande, wenn du magst. Jenes Weib, das deine Geduld so lange missbraucht, deinen Namen beschmutzt, deine Ehre gekränkt und deine Jugend zerstört hat – jenes Weib ist nicht deineGattin und du bist nicht ihr Gatte. Sieh darauf, dass sie gepflegt und behütet wird, wie ihr Zustand es erfordert, und du hast alles getan, was Gott und Menschenpflicht von dir verlangen können. Lass ihre Identität, ihre Verbindung mit dir in
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