Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
einen Bruder hatte, der älter war als ich?«
»Ich erinnere mich, dass Mrs. Fairfax es mir einmal erzählt hat.«
»Und hast du auch gehört, dass mein Vater ein geiziger, habsüchtiger Mann war?«
»Ich dachte mir etwas Derartiges.«
»Und, Jane, da er einmal so war, hatte er den Entschluss gefasst, Besitz und Vermögen zusammenzuhalten. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, seine Güter teilen zu müssen und mir einen gerechten Anteil davon zu geben. Er hatte beschlossen, dass mein Bruder Rowland alles bekommen solle. Aber ebenso wenig wollte er dulden, dass einer seiner Söhne ein armer Mann wäre. Für mich sollte durch eine reiche Heirat gesorgt werden, er suchte mir beizeiten eine Gemahlin. Mr. Mason, ein reicher Kaufmann und Plantagenbesitzer in Westindien, war sein alter Freund. Er hatte Erkundigungen eingezogen und in sichere Erfahrung gebracht, dass seine Besitzungen groß und reich seien. Dann hörte er auch, dass Mr. Mason einen Sohn und eine Tochter habe; und von ihm selbst hatte er gehört, dass er Letzterer eine Mitgift von dreißigtausend Pfund zu geben bereit sei – das genügte. Als ich die Universität verließ, wurde ich nach Jamaika geschickt, um eine Braut heimzuführen, um die bereits für mich geworben worden war. Mein Vater sagte nichts von ihrem Vermögen, aber er sagte mir, dass MissMason um ihrer Schönheit willen der Stolz von ganz Spanish Town wäre. Und dies war keine Lüge: Ich fand in ihr ein schönes Weib im Stil von Blanche Ingram – schlank, dunkel, majestätisch. Ihre Familie wünschte mich festzuhalten, weil ich aus gutem Hause war, und die Tochter wünschte es ebenfalls. Sie wurde mir in prachtvollen Gewändern auf Gesellschaften vorgeführt. Selten sah ich sie allein, und fast niemals konnte ich mich mit ihr unter vier Augen unterhalten. Sie schmeichelte mir und entfaltete all ihre Reize, Kenntnisse und Talente im reichlichsten Maße vor mir. Alle Männer in ihrem Kreis schienen sie zu bewundern und mich zu beneiden. Ich war geblendet, gereizt, meine Sinne waren erregt – und unwissend, unerfahren und jung wie ich war, glaubte ich, sie zu lieben. Es gibt keine Torheit, die zu dumm wäre, als dass ein Mann sie nicht aufgrund von albernen gesellschaftlichen Rivalitäten, Begierde, Blindheit und Eifer der Jugend begehen würde. Ihre Verwandten ermutigten mich, Mitbewerber reizten mich, sie selbst forderte mich heraus, und die Heirat war vollzogen, ehe ich recht wusste, wo ich war. Oh, ich verliere alle Selbstachtung, wenn ich an jene Tat denke, die innere Verachtung überwältigt mich. Ich habe sie nie geliebt, ich habe sie niemals geachtet, ja ich habe sie nicht einmal gekannt. Ich wusste nicht, ob ihr Charakter auch nur eine einzige Tugend besaß; ich hatte bisher weder in ihrer Seele, noch in ihrem Benehmen Bescheidenheit, Seelengüte, Offenherzigkeit oder Reinheit wahrgenommen – und ich heiratete sie, blinder, grober, täppischer Dummkopf, der ich war! Weniger Sünde wäre es gewesen, sie zu … – aber lassen wir das, ich will nicht vergessen, mit wem ich spreche.
Die Mutter meiner Braut hatte ich niemals gesehen, man hatte mir zu verstehen gegeben, dass sie tot sei. Als die Flitterwochen vorüber waren, erfuhr ich, dass ich im Irrtum gelebt hatte: Sie war wahnsinnig und in einer Irrenanstalt untergebracht. Es war auch noch ein jüngerer Bruder da, einvollständig Schwachsinniger. Der ältere, den du hier gesehen hast – auch dieser ältere wird eines Tages dasselbe Schicksal haben. Ich kann ihn nicht hassen – während ich alle übrigen Mitglieder seiner Sippe verabscheue –, weil er doch noch immer ein Körnchen Liebe in seinem schwachen Geist hegt, das er oft genug durch das unveränderte Interesse bewiesen hat, welches er noch immer für seine unglückliche Schwester hegt, und durch eine hündische Anhänglichkeit, die er einst mir gezeigt hat. Mein Vater und mein Bruder Rowland wussten dies alles, aber sie dachten nur an die dreißigtausend Pfund und machten sich so zu Mitschuldigen der Verschwörung gegen mich.
Dies waren widerliche Entdeckungen, aber meiner Frau machte ich nur aus der niederträchtigen Geheimhaltung dieser Umstände einen Vorwurf – sonst keinen; selbst dann noch nicht, als ich einsehen lernte, dass ihre Natur der meinen vollständig fremd und entgegengesetzt war. Ihr Geschmack widerstrebte dem meinen, ihre Seele war gewöhnlich, eng, niedrig und vollständig unfähig, sich höheren Dingen zuzuwenden, sich zu vertiefen. Ich machte ihr
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