Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
Vergessenheit begraben sein. Nichts zwingt dich, Letzteres irgendeinem lebenden Wesen anzuvertrauen. Gib ihr Bequemlichkeit und Sicherheit, umgib ihre Erniedrigung mit dem Schleier des Geheimnisses – und verlasse sie.‹
Genau nach dieser Eingebung handelte ich. Mein Vater und mein Bruder hatten ihren Bekannten von meiner Verheiratung keine Mitteilung gemacht, denn schon in meinem ersten Brief belehrte ich sie über meine Verbindung, da ich damals bereits angefangen hatte, den furchtbarsten Widerwillen gegen die Konsequenzen dieser Heirat zu empfinden. Und da ich nach dem Charakter und der Konstitution der Familie eine abscheuliche Zukunft sich mir eröffnen sah, fügte ich den strengsten Auftrag hinzu, meine Heirat geheim zu halten. Sehr bald darauf wurde der Lebenswandel der Frau, welche mein Vater für mich gewählt hatte, ein solcher, dass er sich schämte, sie als Schwiegertochter anzuerkennen. Weit entfernt davon, die Verbindung zu veröffentlichen, suchte er sie ebenso ängstlich zu verheimlichen wie ich selbst.
Ich brachte sie also nach England. Es war eine furchtbare Reise mit einem solchen Ungeheuer auf dem Schiff. Ich war froh, als ich sie endlich in Thornfield hatte und sie sicher in jenem Zimmer der dritten Etage untergebracht war, aus dessen geheimem Kabinett sie jetzt seit zehn Jahren die Höhle eines wilden Tieres gemacht hat – die Zelle eines Dämons. Es hat mich viele Mühe gekostet, eine Wärterin für sie zu finden, da es notwendig war, eine solche zu wählen, auf deren Treue man sich verlassen konnte, denn in ihren Tobsuchtsanfällen verriet sie mein Geheimnis. Außerdem hatte sie zuweilen tagelang – nein, ganze Wochen hindurch lichte Phasen, welche sie mit den schmachvollstenSchimpfreden über mich ausfüllte. Endlich engagierte ich Grace Poole aus der Irrenanstalt von Grimsby. Sie und der Wundarzt Carter, welcher an jenem Abend, als Mason gestochen und gequält wurde, dessen Wunden verband, sind die beiden einzigen Menschen, welche ich jemals in mein Geheimnis gezogen habe. Mrs. Fairfax mag in der Tat etwas geahnt haben, aber eine genaue Kenntnis der Fakten hat sie nicht erlangt. Grace hat sich im Ganzen als gute Wärterin erwiesen, obgleich ihre Wachsamkeit mehr als einmal eingeschläfert und getäuscht worden ist – was ihr aber sicherlich nur zum Teil angelastet werden kann, da diese Schwäche unabänderlich ihrem aufreibenden Beruf entspringt. Die Tobsüchtige ist so schlau wie boshaft; sie hat es niemals unterlassen, von der zeitweiligen Nachlässigkeit ihrer Hüterin Gebrauch zu machen und auf ihre Weise Vorteil daraus zu ziehen. Einmal hat sie sich das Messer angeeignet, mit dem sie ihren Bruder verwundete, und zweimal bemächtigte sie sich des Schlüssels ihrer Zelle, um bei Nacht aus derselben zu entweichen. Bei der ersten Gelegenheit machte sie den Versuch, mich in meinem Bett zu verbrennen; bei der zweiten machte sie dir den geisterhaften Besuch. Ich danke der Vorsehung, die über dich gewacht hat, dass sie ihre Wut nur an deinem Brautschmuck ausließ; vielleicht weckte sein Anblick Erinnerungen an ihre eigene Brautzeit in ihr. Aber ich wage nicht auszudenken, was möglicherweise hätte geschehen können. Wenn ich an das Geschöpf denke, das mich heute Morgen an der Gurgel packte; wenn ich mir vorstelle, dass es sein schwarzblaues, blutrünstiges Gesicht über das Nest meines unschuldigen Lieblings, meiner Taube beugte – so beginnt das Blut in mir zu kochen.«
»Und was taten Sie, Sir«, fragte ich, als er innehielt, »nachdem Sie sie hier untergebracht hatten? Wohin begaben Sie sich dann?«
»Was ich tat, Jane? Ich verwandelte mich in ein Irrlicht. Wohin ich mich begab? Ich war ein wilder, wandernderGeist. Ich durchstreifte den Kontinent und all seine Länder. Mein einziger Wunsch, meine fixe Idee war es, ein gutes, kluges Weib zu suchen und zu finden, das ich lieben könnte, den Gegensatz zu der Furie, welche ich auf Thornfield zurückgelassen hatte …«
»Aber Sie durften doch nicht heiraten, Sir!«
»Ich hatte beschlossen und war fest überzeugt, dass ich es durfte und musste. Ursprünglich war es ja nicht meine Absicht zu täuschen, wie ich dich getäuscht habe. Ich gedachte, meine Geschichte einfach zu erzählen und meinen Antrag offen zu machen; und mir erschien es so durchaus selbstverständlich, dass man mich für berechtigt ansehen werde zu lieben und geliebt zu werden, dass ich gar nicht daran zweifelte, ein Weib finden zu können, welches imstande wäre,
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