Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
Ob ich ihm diesen Gefallen tun wolle? Vielleicht würde ich ihm dieses Opfer ja nicht lange bringen müssen, weil bis zu seiner Abreise nur noch drei Monate vergehen würden.
St. John war nicht der Mann, dem man leicht eine Bitte abschlagen konnte, denn man fühlte, dass jeder Eindruck, ob freudig oder qualvoll, ein dauernder und tiefgehender bei ihm sei – ich willigte also ein. Als Diana und Mary zurückkehrten, fand Erstere ihre Schülerin zu ihrem Bruder übergegangen. Sie lachte und sowohl sie wie Mary kamen darin überein, dass St. John sie beide niemals zu einem solchen Schritt hätte überreden können. Er antwortete ruhig: »Das weiß ich.«
Ich fand in ihm einen sehr geduldigen und nachsichtigen, aber dennoch strengen Meister. Er erwartete große Leistungen von mir, und wenn ich seine Erwartungen erfüllte, dann gab er mir in seiner eigenen Weise seine Zufriedenheit in vollem Maße zu erkennen. Nach und nach errang ereinen gewissen Einfluss über mich, der mir die Freiheit des Denkens und Wollens nahm: Seine Beachtung und sein Lob legten mir mehr Zwang auf als seine Gleichgültigkeit. Ich konnte in seiner Gegenwart nicht mehr ungezwungen lachen und sprechen, weil ein ermüdend zudringlicher Instinkt mich stets fühlen ließ, dass jede Lebhaftigkeit – wenigstens bei mir – ihm zuwider sei. Ich war mir immer bewusst, dass er nur eine ernste Stimmung und ernsthafte Beschäftigungen guthieß, und dass es vergeblich war, in seiner Gegenwart irgendeine Anstrengung zu etwas anderem zu machen. Ich unterlag einem eisigen Zauber, wenn er sagte »Geh!«, so ging ich; wenn er sagte »Komm!«, so kam ich; »Tu dies!«, so tat ich es. Aber ich liebte diese meine Knechtschaft nicht. Gar manches Mal wünschte ich von Herzen, dass er damit fortgefahren wäre, mich zu vernachlässigen.
Als seine Schwestern und ich ihn eines Abends um die Schlafenszeit umstanden, küsste er sie beide, wie es seine Gewohnheit war, und ebenfalls seiner Gewohnheit gemäß reichte er mir die Hand. Diana, welche zufällig in der ausgelassensten Laune war –
sie
unterlag seinem Willen nicht in so qualvoller Weise wie ich, denn ihr Wille war nach einer anderen Seite hin ebenso stark –, rief aus: »St. John! Du pflegtest Jane deine dritte Schwester zu nennen, aber du behandelst sie nicht als solche. Du solltest sie ebenfalls küssen!«
Sie schob mich zu ihm. Ich fand Diana sehr herausfordernd und war unbehaglich verwirrt. Und während ich noch so fühlte und dachte, neigte St. John den Kopf; sein griechisches Gesicht befand sich in einer Linie mit dem meinen, seine Augen suchten forschend die meinen – und er küsste mich. Es gibt wohl keine Marmorküsse oder Eisküsse, sonst würde ich sagen, dass die Liebkosung meines geistlichen Vetters einer dieser Klassen angehörte; aber es mag ja experimentelle Küsse geben, denn der seine war einexperimenteller Kuss. Nachdem er ihn gegeben hatte, betrachtete er mich, um die Wirkung zu beobachten. Diese war wohl nicht sehr auffallend; ganz bestimmt errötete ich nicht. Vielleicht bin ich aber ein wenig blass geworden, denn ich empfand diesen Kuss wie ein Siegel auf meine Fesseln. Von nun an unterließ er diese Zeremonie niemals wieder, und der Ernst und die Unterwürfigkeit, mit welcher ich mich derselben unterzog, schien sie für ihn mit einem gewissen Reiz zu umkleiden.
Was mich anbetraf, so wünschte ich täglich mehr, ihn zufriedenzustellen. Aber ich empfand auch zunehmend, dass ich, um dies zu tun, mehr als die Hälfte meiner Natur verleugnen müsste, meine Neigungen unterdrücken, meine Wünsche mit Gewalt aus ihrer ursprünglichen Richtung drängen, mich zu Beschäftigungen und Liebhabereien zwingen, zu denen ich von Natur aus keinen Drang in mir verspürte. Er wollte mich zu einer Höhe emporheben, zu welcher ich mich nicht aufschwingen konnte; jede Stunde mühte ich mich ab, die Standarte zu erreichen, welche er so unerreichbar hoch aufgepflanzt hatte. Es war ebenso unmöglich, als wenn ich versucht hätte, meine unregelmäßigen Gesichtszüge nach seinem klassischen Muster umzuformen oder meinen grünschillernden, beständig die Farbe wechselnden Augen die wasserblaue Farbe und den feierlichen Glanz der seinen zu geben.
Indessen war es nicht sein überlegener Einfluss allein, der mich in Fesseln hielt. Seit einiger Zeit war es mir leicht genug geworden, traurig auszusehen, denn ein zehrendes Übel nagte an meinem Herzen und erstickte mein Glück schon an seiner Quelle – das Übel der
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