Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
Botschaft des Himmels ins Ohr zu rufen, ihnen im Namen Gottes einen Platz in den Reihen seiner Auserwählten anzubieten.«
»Wird nicht ihr eigenes Herz es ihnen zuallererst sagen, wenn sie jener Aufgabe wirklich gewachsen sind?«
Mir war, als nähme ein furchtbarer Zauber mich mehr und mehr gefangen. Ich zitterte vor Furcht, ein verhängnisvolles Wort zu hören, das den Zauber zugleich aussprechen und brechen würde.
»Und was sagt
Ihr
Herz Ihnen?«, fragte St. John.
»Mein Herz ist stumm, mein Herz ist stumm«, entgegnete ich betroffen und erregt.
»Dann muss ich an seiner Stelle sprechen«, fuhr er mit seiner tiefen, erbarmungslosen Stimme fort. »Jane, komm mit mir nach Indien! Komm mit mir als meine Helferin, meine Mitarbeiterin.«
Die Schlucht und der Himmel fingen an zu schwanken, die Hügel hoben und senkten sich. Mir war, als hätte ich einen Ruf vom Himmel vernommen, als wäre mir ein Sendbote wie jener von Mazedonien erschienen, der gerufen hätte: »Kommt und helft uns!« Aber ich war kein Apostel – ich konnte den Boten nicht sehen und konnte seinem Ruf nicht folgen.
»Oh, St. John!«, rief ich. »Hab Erbarmen!«
Aber ich flehte zu einem Menschen, der weder Erbarmen noch Gewissensbisse kannte, wenn er glaubte, seine Pflicht zu erfüllen. Er fuhr fort:
»Gott und die Natur haben dich zum Weibe eines Missionars bestimmt. Sie haben dir nicht so sehr körperliche, sondern geistige Vorzüge gegeben; du bist für die Arbeit geschaffen, nicht für die Liebe. Du musst – du sollst die Gattin eines Missionars werden, du musst mein werden. Ich fordere dich – nicht für mich, nicht für mein Glück – ich fordere dich für den Dienst meines allmächtigen Herrn!«
»Nein, dazu passe ich nicht – ich fühle keine Berufung dazu«, sagte ich.
Auf diese ersten Einwendungen war er vorbereitet, sie irritierten ihn nicht. In der Tat, als er sich an den Felsen zurücklehnte, die Arme über die Brust kreuzte und mich fest anblickte, da sah ich in seinen Gesichtszügen, dass er sich auf einen langen und harten Widerstand vorbereitet und mit einem Vorrat an Geduld ausgerüstet hatte, der bis an das Ende meines Widerstands ausreichen sollte. Und er war entschlossen, dieses Ende nur als Sieg zu akzeptieren.
»Demut, Jane, ist der Grundpfeiler aller christlichenTugenden«, sagte er, »du hast recht, wenn du sagst, du eignest dich nicht für die Arbeit. Wer in der Tat taugte dazu? Oder wer, wenn er wahrhaft berufen war, hielt sich dieses Berufs wirklich für würdig? Ich zum Beispiel, ich bin nur Staub und Asche. Mit dem Apostel Paulus nenne ich mich den größten aller Sünder. Aber ich gestatte diesem Bewusstsein meiner eigenen Niedrigkeit nicht, mich zu unterjochen oder mich einzuschüchtern. Ich kenne meinen Führer: Ich weiß, dass er ebenso gerecht wie allmächtig ist; und wenn er ein schwaches Werkzeug erwählt hat, um eine große Aufgabe zu vollbringen, so wird er auch die unzulänglichen Mittel dieses Werkzeuges ergänzen. Denke wie ich, Jane, vertraue gleich mir! Ich will, dass du dich auf den Felsen aller Zeiten stützt – zweifle nicht daran, dass er die Last deiner menschlichen Schwächen zu tragen vermag.«
»Ich verstehe aber nichts vom Leben eines Missionars; ich habe mich nie in die Arbeiten eines solchen vertieft.«
»Darin kann ich dir trotz meiner Niedrigkeit Unterweisung geben; von Stunde zu Stunde kann ich dir deine Aufgabe vorschreiben, von Augenblick zu Augenblick dir weiterhelfen. Und das würde ja nur am Anfang notwendig sein, bald würdest du ebenso stark und der Arbeit gewachsen sein wie ich selbst, denn ich kenne deine Kraft, und dann würdest du meiner Hilfe nicht mehr bedürfen.«
»Aber meine Kraft für ein solches Unternehmen, wo ist sie? Ich bin mir derselben nicht bewusst. Während du jetzt zu mir sprichst, regt sich nichts in mir, gar nichts. Ich empfinde nichts – mein Puls schlägt nicht höher, keine innere Stimme rät mir oder ermuntert mich. Oh, ich wollte, dass ich dich sehen lassen könnte, wie meine Seele in diesem Augenblick einem düsteren Gefängnis ähnelt, auf dessen grauenvollem Boden nur
eine
qualvolle Furcht wurzelt – die Furcht, von dir zu einem Versuch überredet zu werden, der niemals glücken kann!«
»Ich habe eine Antwort für dich – höre sie! Seit unsererersten Begegnung habe ich dich genau beobachtet, zehn Monate hindurch habe ich dich studiert. Durch kleine, unscheinbare Versuche habe ich dich erprobt – und was habe ich erfahren und
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