Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
St. John legte seine und meine Bücher beiseite, verschloss sein Pult und sagte:
»Nun, Jane, Sie sollten einen Spaziergang machen, und zwar mit mir.«
»Ich werde Diana und Mary rufen.«
»Nein. Heute Morgen brauche ich nur eine Gefährtin, und die müssen Sie sein. Kleiden Sie sich an, gehen Sie durch die Küchentür hinaus und schlagen Sie den Weg nach Marsh Glen ein. Ich komme Ihnen in wenigen Augenblicken nach.«
Ich kenne keinen Mittelweg: Niemals in meinem ganzen Leben habe ich in meinem Umgang mit harten, bestimmenden Charakteren, welche dem meinen ganz entgegengesetzt waren, ein Mittelding zwischen absoluter Unterwerfung und entschlossener Empörung gekannt. Ich habe stets getreulich den einen Weg verfolgt, bis ich plötzlich, oft mit vulkanischer Vehemenz, mich auf den anderen stürzte. Und da weder meine augenblickliche Stimmung noch die Umstände eine Widersetzlichkeit notwendig machten, folgte ich gehorsam St. Johns Weisungen und fand mich schon zehn Minuten später an seiner Seite auf dem wilden Fußpfad zur Schlucht.
Von Westen her wehte ein frischer Wind, er kam von den Hügeln herunter und brachte süße Düfte von Heidekraut und Binsen mit sich. Der Himmel war wolkenlos blau; der Bach, durch häufigen Frühlingsregen angeschwollen, brauste durch die Schlucht und spiegelte die goldenen Strahlender Sonne und das saphirfarbene Firmament. Als wir weitergingen und den Fußpfad verließen, gelangten wir auf einen feinen, moosigen, smaragdgrünen Boden, auf welchem zarte weiße Blüten und sternenartige gelbe Blumen leuchteten. Schon jetzt waren wir von den Bergen vollständig umgeben, die Schlucht aber zog sich an ihrem oberen Ende noch bis tief in die Mitte der Bergkette hinein.
»Hier wollen wir ausruhen«, sagte St. John, als wir die ersten Vorboten eines ganzen Bataillons von Felsen erreichten, die eine Art Pass beschützten, an dessen anderem Ende der Bach sich aus einem hohen Wasserfall speiste. Eine kurze Strecke weiter streifte der Berg Moose und Blumen ab und trug als einziges Gewand nur noch Heidekraut, mit Felsklippen als Schmuck. Dort wurde die Landschaft zur Wildnis und aus der Frische wurde Finsternis; die Felsen boten der Suche nach Einsamkeit eine letzte Zuflucht, einen letzten Ort der Stille. Ich setzte mich, St. John stand neben mir. Er blickte den Pass hinauf und den Hohlweg hinunter, sein Auge wanderte mit dem Strom fort und kehrte zurück, um über den wolkenlosen Himmel zu streifen, der dem Strom seine Farbe gab. Dann nahm er seinen Hut ab, um den Wind in seinem Haar spielen und um seine Stirn streichen zu lassen. Er schien mit dem
genius loci
dieses einsamen Schlupfwinkels übereinzustimmen: Sein Auge sagte irgendeinem Gegenstande Lebewohl.
»Und ich werde es wiedersehen«, sagte er laut, »im Traum, wenn ich an den Ufern des Ganges schlafe. Und dann, zu einer noch späteren Stunde, wenn ein anderer Schlaf über mich kommt – am Ufer eines dunkleren Stromes.«
Seltsame Worte einer seltsamen Liebe! Die Leidenschaft eines ernsten Vaterlandsfreundes für seine Heimat! Er setzte sich. Während einer halben Stunde sprachen wir kein Wort, weder er zu mir noch ich zu ihm. Nach dieser Zeit begann er von Neuem:
»Jane, ich reise in sechs Wochen. Ich habe bereits eineKajüte auf einem Ostindienfahrer genommen, der am zwanzigsten Juni absegelt.«
»Gott wird Sie beschützen, denn Sie arbeiten für ihn«, entgegnete ich.
»Ja«, sagte er, »das ist mein Stolz und meine Freude. Ich bin der Diener eines unfehlbaren Herrn. Ich gehe nicht unter menschlicher Führung ins Leben hinaus, nicht unter einer Führung, welche den mangelhaften Gesetzen und der fehlbaren Gewalt meiner schwachen Mitmenschen unterworfen ist. Mein König, mein Gesetzgeber, mein Führer ist der Allgewaltige, der Vollkommene! Es erscheint mir so seltsam, dass nicht alle, die mich umgeben, vor Begierde vergehen, sich um dieselbe Fahne zu scharen – dasselbe Werk zu unternehmen.«
»Nicht alle haben Ihre Kraft, und es wäre Torheit, wenn die Schwachen mit den Starken gehen wollten.«
»Ich spreche nicht von den Schwachen und denke nicht an sie; ich wende mich nur an jene, welche jener Arbeit würdig sind und fähig, sie zu verrichten.«
»Deren Zahl ist nur gering, und es ist schwer, sie zu finden.«
»Sie sprechen wahr; aber wenn man sie gefunden hat, so ist es eine Pflicht, sie auch zu erwecken, sie anzuspornen, ihnen zu zeigen, welche Gaben ihnen gegeben sind, und weshalb sie ihnen gegeben sind – ihnen die
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