Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
gesehen? Ich fand, dass du in der Dorfschule eine Arbeit, welche deinen Neigungen und Gewohnheiten entgegenstand, gut, pünktlich und ehrlich verrichten konntest; ich sah sogar, dass du sie mit Geschick und Takt tatest – während du lenktest, konntest du sogar Herzen erobern. In der Ruhe, mit welcher du die Nachricht von deinem plötzlichen Reichtum hinnahmst, erkannte ich ein Gemüt, das frei von allem Laster ist – Habgier hat keine Macht über dich. In der entschlossenen Bereitwilligkeit, mit welcher du deinen Reichtum in vier Teile teiltest, nur den einen Teil für dich behaltend und die drei anderen den Forderungen einer ganz abstrakten Gerechtigkeit überlassend, erkannte ich eine Seele, in welcher die Flamme der Dankbarkeit und des Opfermuts brennt. In der Lenksamkeit, mit welcher du auf meinen Wunsch ein Studium aufgabst, welches dich interessierte, und ein anderes aufnahmst, nur weil es
mich
interessierte; in dem unermüdlichen Fleiß, mit welchem du bis jetzt darin ausharrst; in der festen, unerschütterlichen Energie und stets gleichmäßigen Laune, mit welcher du die Schwierigkeiten dieses Studiums überwindest – in all dem erkannte ich die Vollkommenheit der Eigenschaften, welche ich suche. Jane, du bist sanftmütig, fleißig, selbstlos, treu, beständig und mutig; sehr liebreich und sehr heldenmütig. Höre auf, dir selbst zu misstrauen – ich vertraue dir rückhaltlos! Als Leiterin indischer Schulen und Helferin indischer Frauen wird dein Beistand mir von unschätzbarem Wert sein.«
Ein eisernes Totenhemd zog sich um mich zusammen; die Überredung kam mit langsamen, sicheren Schritten daher. Ich mochte meine Augen verschließen, wie ich wollte – diese seine letzten Worte reichten hin, um meinen Weg, welcher mir bis zu diesem Augenblick voller Hindernisseerschien, frei zu machen. Meine Lebensaufgabe, welche mich bisher so unbestimmt gedünkt hatte, wurde unter seinen Händen klar; was mir so hoffnungslos verworren schien, hatte durch seine Worte eine feste Gestalt angenommen. Er wartete auf eine Antwort. Ich bat um eine Viertelstunde Bedenkzeit, bevor ich von Neuem zu sprechen wagte.
»Gern«, entgegnete er. Er erhob sich und ging eine kurze Strecke die Schlucht hinauf, warf sich dort auf ein Lager von Heidekraut und blieb still liegen.
›Ich bin gezwungen einzugestehen, dass ich wohl vollbringen
kann
, was er von mir verlangt‹, überlegte ich. ›Das heißt, wenn ich überhaupt am Leben bleibe: Ich vermute, dass dies unter einer indischen Sonne nicht lange der Fall sein würde. Was aber dann? Das kümmert ihn kaum. Wenn die Zeit zum Sterben für mich gekommen sein würde, gäbe er mich dem Gott, der mich ihm gegeben hat, in aller Ruhe und Heiligkeit zurück. Dies sehe ich sehr klar. Wenn ich England verließe, so würde ich nur ein mir teures, aber ebenso leeres Land verlassen – denn Mr. Rochester ist nicht mehr da, und selbst wenn er da wäre, was bedeutete das schon für mich? Welche Bedeutung könnte das jemals noch für mich haben? Meine Aufgabe ist es jetzt, ohne ihn zu leben. Nichts Dümmeres, nichts Schwächeres, Nutzloseres, als sich so von einem Tag zum anderen zu schleppen; gerade, als erwartete ich noch irgendeine unmögliche Veränderung der Verhältnisse, welche mich wieder mit ihm vereinigen könnte. Natürlich muss ich mir eine andere Aufgabe im Leben suchen, als Ersatz für das verlorene Ziel, wie St. John einst sagte. Und ist die Aufgabe, welche er mir jetzt bietet, nicht in Wahrheit die ruhmreichste, welche ein Gott stellen und ein Mensch vollbringen kann? Ist sie mit ihren edlen Sorgen und erhabenen Erfolgen nicht am besten geeignet, die Leere auszufüllen, welche zerstörte Hoffnung und tote Liebe zurückgelassen haben? Ich glaube, ich kann nur mit Ja antworten – und doch erfasst mich ein Schauder.Denn ach, wenn ich mit St. John gehe, so gebe ich mehr als die Hälfte meines Ichs dahin; wenn ich nach Indien gehe, gehe ich einem frühzeitigen Tod entgegen. Und wie wird die Zeit, welche zwischen meinem Abschied von England und meinem Grab in Indien liegt, verfließen? Oh, ich weiß es nur zu wohl, auch dies liegt klar vor meinen Augen: Ich werde mich anstrengen, bis meine Glieder schmerzen und meine Nerven reißen, um St. Johns hohe Erwartungen bis ins kleinste Detail hinein zu erfüllen. Wenn ich mit ihm gehe, wenn ich das Opfer bringe, das er verlangt, so bringe ich es ganz und gar; dann lege ich alles auf den Altar, Herz und Lebenskraft, dann ist das Opfer
Weitere Kostenlose Bücher