Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
Tuch mit einer Art von spanischem Besatz aus schwarzem Samt. Eine goldene Uhr – Uhren wurden in jenen Tagen noch nicht allgemein getragen – hing an ihrem Gürtel. Um das Bild vollständig zu machen, muss der Leser sich noch feine, vornehme Züge hinzudenken, eine bleiche, aber klare Gesichtsfarbe und eine eindrucksvolle Haltung und Gestalt – dann hat er, so deutlich wie Worte sie zu geben vermögen, eine ungefähre Vorstellung von der äußeren Erscheinung von Miss Temple – Maria Temple, wie ich später einmal in einem Gebetbuch las, welches mir anvertraut wurde, um es in die Kirche zu tragen.
Die Vorsteherin von Lowood, denn dies war ihr Amt, nahm ihren Sitz vor zwei Globen ein, die auf einem der Tische standen, rief die erste Klasse auf, sich um sie zu versammeln, und begann eine Geographiestunde. Die Lehrerinnen wandten sich den unteren Schulklassen zu und prüften diese in Weltgeschichte und Grammatik. Dies dauerte eine Stunde. Dann folgten Arithmetik und Schreibunterricht, und Miss Temple gab einigen der größeren Mädchen eine Musikstunde. Die Dauer jeder Unterrichtsstunde wurde nach der Uhr bemessen. Endlich schlug es zwölf und die Vorsteherin erhob sich.
»Ich habe einige Worte an die Schülerinnen zu richten«, sagte sie.
Der Tumult, welcher stets nach Beendigung der Schulstunden einzutreten pflegte, hatte sich bereits erhoben, aber er legte sich sofort beim Klang ihrer Stimme. Sie fuhr fort:
»Ihr habt heute Morgen ein Frühstück gehabt, welches ihr nicht essen konntet. Ihr müsst hungrig sein – ich habe befohlen, dass für euch alle ein Gabelfrühstück von Brot und Käse aufgetragen wird.«
Die Lehrerinnen richteten Blicke auf sie, welche das größte Erstaunen verrieten.
»Es soll auf meine Verantwortung geschehen«, fügte sie in einem erklärenden Ton in Richtung dieser Damen hinzu; gleich darauf verließ sie das Zimmer.
Brot und Käse wurden alsbald hereingebracht und verteilt, zum größten Ergötzen und zur höchsten Befriedigung der ganzen Schule. Und nun erging die Order: »In den Garten!« Jede Schülerin setzte einen groben, hässlichen Strohhut mit Bändern von buntem Kaliko auf und band einen Mantel von grauem Fries um. Ich wurde in gleicher Weise ausgestattet und folgte dem Strom hinaus an die frische Luft.
Der Garten war eine weite Fläche und von so hohen Mauern umgeben, dass jeder Blick nach draußen unmöglich war. An der einen Seite zog sich eine überdachte Veranda entlang. Breite Kieswege umfassten eine Fläche in der Mitte, die in unzählige, kleine Beete unterteilt war. Diese Beete waren den Schülerinnen zum Bebauen und zur Pflege übergeben, und jedes Beet hatte eine Besitzerin. Ohne Zweifel mussten die Beete sehr hübsch gewesen sein, wenn sie mit blühenden Blumen bedeckt waren, aber jetzt, gegen Ende des Januars, boten sie dem Auge nur ein Bild der winterlichen Zerstörung und des traurigen Verfalls. Es durchschauerte mich, als ich so dastand und umherblickte. Der Tag war der Bewegung im Freien durchaus nicht günstig, es herrschte zwar kein richtiger Regen, der alles durchnässte, dafür aber ein dicker, gelber, herabrieselnder Nebel. DerBoden unter unseren Füßen war durch den gestrigen Regen noch gänzlich durchweicht. Die kräftigeren unter den Mädchen liefen umher und amüsierten sich mit fröhlichen Spielen, aber in der Veranda stand auch eine ganze Schar bleicher, magerer Gestalten, die ängstlich zusammenkrochen, als suchten sie hier Schutz und Wärme. Oft ertönte aus ihrer Mitte, wenn der dichte Nebel ihnen fast bis auf die Haut drang, ein hohles, ungesundes Husten.
Bis jetzt hatte ich noch mit niemandem gesprochen und niemand schien mir besondere Beachtung zu schenken; ich stand ganz allein da. Aber an das Gefühl der Einsamkeit war ich ja gewöhnt, es bedrückte mich nicht mehr als sonst. Ich lehnte mich gegen einen Pfeiler der Veranda und zog meinen grauen Mantel fest um mich zusammen. Und indem ich versuchte, die Kälte, die mich von außen schmerzte, und den unbefriedigten Hunger, der von innen an mir nagte, zu vergessen, gab ich mich ganz der Beobachtung und dem Nachdenken hin. Meine Gedanken waren zu unbestimmt und zu bruchstückhaft, als dass sie Erwähnung verdienten. Ich wusste noch kaum, wo ich mich eigentlich befand. Gateshead und mein bisheriges Leben schienen in einer unermesslichen Ferne zu verschwinden, die Gegenwart war seltsam und vage, und von der Zukunft wagte ich nicht, mir irgendein Bild zu machen. Ich blickte in dem
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