Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
zwei Meilen von hier, in einem großen, prächtigen Herrenhaus.«
»Ist er ein guter Mann?«
»Er ist ein Geistlicher, und man sagt, dass er sehr viel Gutes tut.«
»Sagtest du, dass die schlanke Dame Miss Temple heißt?«
»Ja.«
»Und wie heißen die anderen Lehrerinnen?«
»Die mit den roten Wangen heißt Miss Smith, sie muss auf die Handarbeiten achten und schneidet die Stoffe zu – wir nähen nämlich unsere Wäsche, Kleider, Mäntel und auch alles andere selbst. Die Kleine mit dem schwarzen Haar heißt Miss Scatcherd, sie lehrt Geschichte und Grammatik und prüft die zweite Klasse. Die Dritte, die einen Schal trägt und das Taschentuch mit einem gelben Band an der Seite festgebunden hat, ist Madame Pierrot. Sie kommt aus Lille in Frankreich und lehrt Französisch.«
»Liebst du die Lehrerinnen?«
»O ja, so ziemlich.«
»Liebst du auch die kleine Schwarze und die Madame …? Ich kann ihren Namen nicht so gut aussprechen wie du.«
»Miss Scatcherd ist heftig, du musst dich hüten, sie ärgerlich zu machen. Aber Madame Pierrot ist keine üble Person.«
»Aber Miss Temple ist die Beste, nicht wahr?«
»Miss Temple ist sehr klug und sehr gut; sie steht über all den anderen, weil sie viel mehr weiß als sie.«
»Bist du schon lange hier?«
»Zwei Jahre.« »Bist du eine Waise?«
»Meine Mutter ist tot.«
»Fühlst du dich hier glücklich?«
»Du stellst eigentlich zu viele Fragen. Für jetzt habe ich dir genug geantwortet. Ich will jetzt lesen.«
In diesem Augenblick erklang die Glocke, die uns zum Mittagessen rief. Alle kehrten ins Haus zurück. Der Geruch, welcher jetzt das Refektorium füllte, war kaum appetitlicher als jener, welcher unsere Nasen beim Frühstück beleidigt hatte. Das Mittagessen wurde in zwei riesigen Zinnschüsseln serviert, aus denen ein scharfer Dampf aufstieg, der stark an ranziges Fett erinnerte. Das Gericht bestand aus faden Kartoffeln und seltsamen Fetzen rötlichen Fleisches, die zusammengerührt und gekocht waren. Von dieser Speise wurde jeder Schülerin eine ziemlich große Portion vorgesetzt. Ich aß, so viel ich konnte, und fragte mich im Stillen, ob die Kost der anderen Tage wohl besser sein würde.
Nach dem Mittagessen verfügten wir uns sofort wieder in das Schulzimmer. Die Stunden begannen von Neuem und dauerten bis fünf Uhr.
Die einzige bemerkenswerte Begebenheit des Nachmittags bestand darin, dass ich sah, wie das Mädchen, mit dem ich bei der Veranda gesprochen hatte, von Miss Scatcherd aus der Weltgeschichtsstunde gejagt wurde und inmitten des großen Schulzimmers stehen musste. Die Strafe schien mir im höchsten Grade entehrend, besonders für ein so großes Mädchen, das mehr als dreizehn Jahre zu zählen schien. Ich erwartete, bei ihr Anzeichen von großer Scham und Verzweiflung zu sehen, aber zu meinem größten Erstaunen weinte sie weder, noch errötete sie. Gefasst und ernst stand sie da, alle Blicke waren auf sie gerichtet. ›Wie kann sie das so ruhig, so gefasst tragen?‹, fragte ich mich. ›Wenn ich an ihrer Stelle wäre, so würde ich doch gewiss wünschen, dassdie Erde sich öffnen möchte, um mich zu verschlingen. Sie aber sieht aus, als dächte sie an etwas weit Entferntes, an etwas ganz anderes als an ihre augenblickliche Lage, an etwas, das nicht um sie herum und nicht vor ihr passiert. Man spricht ja von Tagträumen – träumt sie jetzt einen solchen Traum? Ihre Augen sind auf den Boden geheftet, aber ich bin überzeugt, dass sie diesen nicht sieht. Ihr Blick scheint nach innen gewendet, in ihr Herz versenkt, sie sieht nur die Dinge, die in ihrer Erinnerung leben, nichts, was die Gegenwart ihr bringt. Ich möchte doch wissen, was für ein Mädchen sie ist – ob gut oder böse?‹
Bald nach fünf gab es wieder eine Mahlzeit, die aus einem kleinen Becher Kaffee und einer halben Scheibe Schwarzbrot bestand. Ich trank meinen Kaffee und verschlang mein Brot mit wahrem Genuss und blieb doch hungrig – wie froh wäre ich gewesen, wenn ich doppelt so viel gehabt hätte. Darauf folgte eine halbstündige Erholung, und dann begannen die Studien von Neuem. Schließlich kam das Glas Wasser mit dem Stückchen Haferkuchen, das Gebet und das Schlafengehen. – Dies war mein erster Tag in Lowood.
Sechstes Kapitel
Der nächste Tag begann wie der vorige. Wir standen bei Lampenlicht auf und kleideten uns an, aber an diesem Morgen wurde uns erlaubt, das Waschen ausfallen zu lassen – das Wasser in den Wasserkrügen war gefroren. Am Abend vorher
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