Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
Ton einer Glocke an mein Ohr. Die Mädchen waren bereits aufgestanden und kleideten sich an. Der Tag war noch nicht angebrochen, und ein oder zwei Lichter brannten im Zimmer. Widerwillig erhob auch ich mich, denn es war bitterkalt. Ich kleidete mich so gut an, wie ich es vor Kälte bebend vermochte. Als eine Waschschüssel frei geworden war, wusch ich mich. Allerdings musste ich lange auf diese glückliche Fügung warten, denn auf den Waschtischen, welche entlang der Zimmermitte aufgestellt waren, befand sich immer nur eine Schüssel für je sechs Mädchen.Wieder ertönte die Glocke. Alle traten wie am vorigen Abend – zwei und zwei – in die Kolonne. In dieser Ordnung gingen sie die Treppe hinunter und schritten in das trübe erhellte und kalte Schulzimmer. Hier las Miss Miller das Morgengebet vor; dann rief sie laut:
»Bildet die Klassen!«
Nun folgte ein großer Tumult, der eine Weile anhielt. Miss Miller rief wiederholt zu Ruhe und Ordnung auf. Als diese endlich eingetreten waren, sah ich, dass sich alle in vier Halbkreisen vor vier Stühlen aufgestellt hatten, welche vor vier Tischen standen. Alle hielten Bücher in den Händen und ein großes Buch, einer Bibel ähnlich, lag auf jedem Tisch vor dem leeren Stuhl. Nun entstand eine minutenlange Pause, während welcher man nichts vernahm, als das leise Gemurmel von Zahlen. Miss Miller ging von Klasse zu Klasse und brachte diese unbestimmten Laute zum Verstummen.
Aus der Ferne ertönte eine Glocke. Gleich darauf traten drei Damen ins Zimmer. Jede derselben ging an einen der Tische und nahm Platz. Miss Miller nahm den vierten Stuhl, welcher der Tür am nächsten stand und um den die kleinsten Kinder sich versammelt hatten, dieser letzten Klasse wurde auch ich zugewiesen, und zwar als Letzte.
Jetzt begann die Arbeit. Das Tagesgebet wurde wiederholt, dann wurden mehrere Texte aus der Heiligen Schrift hergesagt und endlich folgte das Lesen von Kapiteln aus der Bibel, welches eine ganze Stunde dauerte. Als wir mit dieser Übung fertig waren, war auch der Tag vollständig angebrochen. Die unermüdliche Glocke ertönte jetzt zum vierten Mal. Die Klassen sammelten sich und marschierten in ein anderes Zimmer, wo das Frühstück eingenommen wurde. Wie froh war ich bei der Aussicht, jetzt endlich etwas zu essen zu bekommen. Der Hunger hatte mich beinahe schon krank gemacht, denn den Tag zuvor hatte ich fast gar keine Nahrung zu mir genommen.
Das Refektorium war ein großer aber niedriger, düstererSaal. Auf zwei langen Tischen dampfte etwas Heißes in kleinen Näpfen, das zu meiner größten Enttäuschung aber einen Geruch ausströmte, der alles andere als einladend war. Als der Dampf dieser Mahlzeit in die Nasen der Mädchen drang, bemerkte ich eine allgemeine Unruhe. Aus der Vorhut unserer Prozession, die von den großen Mädchen der ersten Klasse gebildet wurde, hörte man es flüstern:
»Ekelhaft! Der Haferbrei ist schon wieder angebrannt!«
»Ruhe!«, gebot eine Stimme. Es war nicht diejenige Miss Millers, sondern sie gehörte einer der Oberlehrerinnen, einer kleinen dunklen Person, die hübsch gekleidet war, jedoch sehr mürrisch und unangenehm aussah. Diese nahm an dem oberen Ende eines Tisches Platz, während eine behäbigere Dame an dem anderen präsidierte. Umsonst hielt ich Ausschau nach der Gestalt, welche ich am ersten Abend gesehen hatte, sie war nicht sichtbar. Miss Miller hatte am unteren Ende des Tisches Platz genommen, an welchem ich saß, und eine seltsam fremdartig aussehende, ältliche Dame – die französische Lehrerin, wie ich später erfuhr – nahm denselben Platz am nächsten Tisch ein. Ein langes Gebet wurde gesprochen, ein Choral gesungen, dann brachte eine Dienerin den Tee für die Lehrerinnen herein und die Mahlzeit nahm ihren Anfang.
Vollständig ausgehungert und ermattet, verschlang ich mehrere Löffel von meiner Portion, ohne an den Geschmack zu denken, als aber der erste, quälende Hunger gestillt war, bemerkte ich, welch übelriechendes Gemisch vor mir stand. Angebrannter Haferbrei ist beinahe ebenso abscheulich wie verfaulte Kartoffeln, selbst die Hungersnot schreckt davor zurück. Die Löffel bewegten sich ganz langsam, ich sah, wie die Mädchen die ihnen vorgesetzte Nahrung kosteten und wie sie versuchten, sie hinunterzuschlucken, aber in den meisten Fällen gaben sie auf: Das Frühstück ging vorüber, und niemand hatte gefrühstückt. Wir sprachen das Dankgebet für etwas, was wir gar nichtbekommen hatten, und nachdem ein
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