Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
war eine Veränderung im Wetter eingetreten. Ein scharfer Nordostwind, der die ganze Nacht durch die Ritzen in unseren Schlafzimmerfenstern gepfiffen hatte, hatte uns in unseren Betten vor Kälte beben lassen und den Inhalt der Waschkrüge in Eis verwandelt.
Bevor die langen anderthalb Stunden des Gebets und des Bibellesens zu Ende waren, war ich nahe daran, vor Kälteohnmächtig zu werden. Endlich kam die Frühstückszeit, und an diesem Morgen war der Haferbrei nicht angebrannt. Die Qualität war essbar, allerdings ließ diesmal die Quantität viel zu wünschen übrig. Wie klein erschien mir doch meine Portion; ich wünschte, sie wäre doppelt so groß gewesen.
Im Laufe des Tages wurde ich der vierten Klasse als Schülerin eingereiht und mir wurden regelmäßige Aufgaben und Beschäftigungen angewiesen. War ich bis jetzt nur Zuschauerin in Lowood gewesen, so sollte ich jetzt eine der Mitwirkenden werden. Da ich wenig daran gewöhnt war, etwas auswendig zu lernen, schienen mir die Aufgaben unendlich lang und schwer; auch der häufige Wechsel des Gegenstandes der Lektionen verwirrte mich. Ich war daher froh, als Miss Smith mir gegen drei Uhr nachmittags einen zwei Ellen langen Streifen weißen Musselins samt Fingerhut und Schere gab und mir gebot, mich in einen stillen Winkel des Schulzimmers zu setzen, wo ich den Stoff säumen sollte. Um diese Zeit nähte auch die Mehrzahl der anderen Mädchen; nur eine Klasse war noch um Miss Scatcherds Stuhl versammelt und mit Lesen beschäftigt. Da tiefe Stille herrschte, konnte man den Gegenstand des Unterrichts deutlich vernehmen und ebenso die Art und Weise, wie jedes Mädchen seine Aufgabe erledigte oder Miss Scatcherd ihre Missbilligung oder Anerkennung zu verstehen gab. Es ging um englische Geschichte. Unter den Leserinnen bemerkte ich meine Bekannte von der Veranda. Zu Beginn der Lektion hatte sie den Platz der Klassenersten eingenommen, aber wegen irgendeines Irrtums in der Aussprache oder einer Unaufmerksamkeit in Bezug auf die Interpunktion wurde sie plötzlich an das Ende der Reihe geschickt. Und selbst noch auf diesem Platz blieb sie unausgesetzt ein Gegenstand für Miss Scatcherds Aufmerksamkeit; fortwährend richtete sie Worte wie die folgenden an sie:
»Burns« – dies schien ihr Name zu sein, die Mädchenwurden hier, wie anderswo die Knaben, mit ihren Familiennamen angeredet – »Burns, du spielst mit den Füßen herum, stell dich augenblicklich ordentlich hin!« – »Burns, weshalb streckst du das Kinn in so hässlicher, unangenehmer Weise vor? Halte den Kopf gerade!« – »Burns, ich bestehe darauf, dass du dich gerade hältst, ich will dich in solcher Stellung nicht vor mir sehen!« Und so weiter, und so weiter.
Als das Kapitel zweimal durchgelesen war, wurden die Bücher geschlossen und die Mädchen geprüft. Die Lektion hatte einen Teil der Regierung von Charles I. umfasst, und es waren verschiedene Fragen über Schiffsladungen und Zollgebühren gestellt worden, welche die meisten der Mädchen nicht beantworten konnten. Jedes Problem wurde jedoch gelöst, wenn die Reihe an Burns kam; ihr Gedächtnis schien die Substanz der ganzen Lektion erfasst zu haben, und sie hatte für jede Frage eine Antwort bereit. Ich saß da und wartete freudig erregt, dass Miss Scatcherd ihre Aufmerksamkeit rühmen würde, stattdessen rief sie plötzlich aus:
»Du schmutziges, widerwärtiges Mädchen! Heute Morgen hast du deine Nägel wieder nicht gereinigt!«
Burns antwortete nicht, und ich wunderte mich über ihr Schweigen.
›Weshalb‹, dachte ich, ›erklärt sie denn nicht, dass sie weder ihr Gesicht waschen noch ihre Nägel reinigen konnte, da das Wasser gefroren war?‹
Hier wurde meine Aufmerksamkeit durch Miss Smith abgelenkt, welche mich bat, ihr mit dem Zwirn behilflich zu sein. Während sie ihn aufwickelte, sprach sie ein wenig mit mir, fragte, ob ich schon früher eine Schule besucht habe, ob ich zeichnen, sticken und stricken könne und anderes mehr. Bis sie mich wieder entließ, konnte ich meine Beobachtungen von Miss Scatcherds Verhalten nicht fortsetzen. Als ich endlich auf meinen Sitz zurückkehrte, erteilte dieseDame gerade einen Befehl, dessen Inhalt ich nicht verstehen konnte. Burns verließ jedoch augenblicklich die Klasse und trat in ein kleines, inneres Zimmer, wo die Bücher aufbewahrt wurden. Nach kaum einer halben Minute kehrte sie zurück und trug in ihrer Hand ein kleines Reisigbündel, das an einem Ende zusammengebunden war. Dieses ominöse
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