Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
in meiner Macht, dem Mangel dieses Mal abzuhelfen.«
Nachdem sie Helen und mich aufgefordert hatte, uns an den Tisch zu setzen, und jeder von uns eine Tasse heißen Tees und eine Scheibe köstlichen gerösteten Weißbrots gegeben hatte, erhob sie sich, öffnete eine Schublade, nahm aus derselben ein in Papier gewickeltes Paket und enthüllte vor unseren Augen einen großen, prächtigen Krümelkuchen.
»Ich hatte die Absicht, jeder von euch ein Stück hiervon mit auf den Weg zu geben«, sagte sie, »da man uns aber so wenig Toast bewilligt hat, sollt ihr den Kuchen jetzt schon haben.« Und sie begann, den Kuchen in großzügige Scheiben zu schneiden.
Wir schmausten an diesem Abend wie von Nektar und Ambrosia, und es war nicht die geringste Freude dieses Festes, dass unsere Wirtin uns mit freundlich zufriedenem Lächeln zusah, wie wir unseren regen Appetit an den köstlichen Leckerbissen, welche sie uns vorsetzte, stillten. Als der Tee getrunken und der Tisch abgeräumt war, rief sie uns wieder an den Kamin. Wir setzten uns ihr zur Seite, und es folgte ein Gespräch zwischen Helen und ihr, welchem lauschen zu dürfen ich als besondere Gunst empfand.
Miss Temple strahlte Ruhe und Seelenfrieden aus, sie wahrte stets eine vornehme Haltung und eine gemessene Sprache, welche jede Abweichung in das Feurige, Erregte oder Ungestüme ausschloss. Jene, welche sie anblickten und ihr zuhörten, machte dies auf eine mit Ehrfurcht gepaarte Weise glücklich. In diesem Augenblick war das auch meine Empfindung. Was aber Helen Burns anbetraf, so überraschte sie mich aufs Höchste.
Die aufbauende Mahlzeit, das wärmende Feuer, die Gegenwart ihrer geliebten Lehrerin oder vielleicht auch etwas in ihrem eigenen, einzigartigen Gemüt hatte alle Kräfte in ihr geweckt. Sie erwachte, ja sie entflammte förmlich. Ihre Wangen, welche ich bis zu dieser Stunde niemals anders als bleich und blutleer gekannt hatte, glühten nun in strahlenden Farben. Ihre feucht glänzenden Augen bekamen plötzlich eine Schönheit, die noch eigentümlicher war, als jene Miss Temples – eine Schönheit, die weder in ihrer Farbe, noch in den langen Wimpern oder den herrlich gezeichneten Augenbrauen lag, sondern in ihrem Ausdruck, in ihrer Bewegung. Jetzt trug sie ihr Herz auf der Zunge, und die Worte flossen – ich weiß nicht, aus welcher Quelle, dennkann ein vierzehnjähriges Mädchen ein solches Herz haben, das groß, stark und kräftig genug ist, um die Quelle solch feuriger Beredsamkeit zu sein? Das Eigenartige an Helens Worten an diesem mir unvergesslichen Abend aber war, dass sie mir klangen, als ob ihr Geist sich beeilen wollte, in einer kurzen Zeitspanne ebenso voll und ganz zu leben wie die meisten Menschen während eines langen Daseins.
Sie sprachen über Dinge, von denen ich noch nie gehört hatte, von längst vergangenen Zeiten und Völkern, von fernen Ländern, von entdeckten oder nur geahnten Naturgeheimnissen: Sie sprachen von Büchern. Wie viele hatten sie schon gelesen, welch reichen Schatz von Kenntnissen besaßen sie! Sie schienen mir so vertraut mit französischen Namen und französischen Schriftstellern. Mein Erstaunen stieg aber aufs Höchste, als Miss Temple Helen fragte, ob sie zuweilen einen freien Augenblick erübrigen könne, um das Latein, welches ihr Vater sie gelehrt hatte, mit ihr zu wiederholen. Dann nahm sie ein Buch vom Regal und bat sie, eine Seite des Vergil zu lesen und zu übersetzen. Helen gehorchte, und meine Verehrung und Hochachtung steigerte sich mit jeder Zeile, während ich lauschte. Kaum hatte sie geendet, als die Glocke ertönte, welche die Zeit des Schlafengehens verkündete; wir durften nicht länger verweilen. Miss Temple umarmte uns beide und sagte, während sie uns an ihr Herz zog: »Gott segne euch, meine Kinder!«
Helen drückte sie ein wenig länger als mich und ließ sie widerstrebender los, ihre Augen folgten ihr bis an die Tür, und ihr galt auch der traurige Seufzer, welcher ihre Brust hob, und die Träne, welche sie schnell zu trocknen bemüht war.
Als wir das Schlafzimmer erreichten, hörten wir Miss Scatcherds Stimme. Sie sah nach, ob die Schubladen in Ordnung waren, gerade hatte sie jene von Helen Burns herausgezogen, und als wir eintraten, wurde Helen mit einem scharfen Verweis begrüßt, und die Lehrerin kündigte ihr an,dass sie am folgenden Tag ein halbes Dutzend der unordentlich zusammengelegten Dinge an die Schulter geheftet bekäme.
»Meine Sachen waren wirklich furchtbar
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