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Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)

Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)

Titel: Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Brontë
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unordentlich«, flüsterte Helen mir zu, »ich wollte ja aufräumen, aber ich hatte es vergessen.«
    Am nächsten Morgen schrieb Miss Scatcherd das Wort »Schlampe« mit großen Buchstaben auf ein Stück Pappe und band es wie einen Denkzettel um Helens große, kluge und gütige Stirn. Geduldig und ohne Murren trug sie das Schild bis zum Abend, es als verdiente Strafe ansehend. Kaum hatte Miss Scatcherd sich aber nach den letzten Unterrichtsstunden zurückgezogen, als ich auf Helen losstürzte, es herabriss und ins Feuer warf. Die Wut, zu der sie nicht fähig war, hatte den ganzen Tag über in meiner Seele getobt, und große, heiße Tränen hatten fortwährend meine Wangen genetzt, denn der Anblick ihrer traurigen Resignation stach mir unerträglich ins Herz.
    Ungefähr eine Woche nach dem oben Erzählten erhielt Miss Temple Antwort von Mr. Lloyd. Wie es schien, bestätigte das, was er schrieb, meinen Bericht. Miss Temple rief die ganze Schule zusammen und verkündete, dass die Anklagen, welche gegen Jane Eyre erhoben wurden, genau und sorgfältig untersucht worden sind, und dass sie glücklich sei, mich von jeder Schuld freisprechen zu können. Darauf schüttelten die Lehrerinnen mir die Hände und küssten mich, und ein Murmeln der Freude lief durch die Reihen meiner Gefährtinnen.
    Eine schwere Last war mir vom Herzen genommen, und von dieser Stunde an begann ich von Neuem ernstlich zu arbeiten. Ich war fest entschlossen, mir einen Weg durch alle Schwierigkeiten zu bahnen, ich mühte mich ab, und der Erfolg entsprach meinen Anstrengungen. Mein Gedächtnis, welches von Natur aus nicht sehr stark war, besserte sich durch stete Übung. Mein Verstand wurde durch dieArbeit geschärft, nach einigen Wochen wurde ich in eine höhere Klasse versetzt, in weniger als zwei Monaten war mir gestattet, mit dem Französischen und dem Zeichnen zu beginnen. An nur einem Tag lernte ich die ersten beiden Zeiten des Verbums
être
und skizzierte mein erstes Cottage – dessen Mauern, nebenbei gesagt, in ihrer Schräge den Turm von Pisa bei Weitem übertrafen. Als ich an jenem Abend zu Bett ging, vergaß ich sogar, mir in meiner Phantasie das Barmakidenmahl aus »Tausendundeiner Nacht« auszumalen, das aus heißen Bratkartoffeln, Weißbrot und frisch gemolkener Milch bestand und mit dem ich allabendlich mein inneres Verlangen zu stillen pflegte. Stattdessen erfreute ich mich am Anblick imaginärer Zeichnungen, welche ich im Dunkeln vor mir sah – alle waren Werke von meiner eigenen Hand: fein gezeichnete Häuser und Bäume, malerische Felsen und Ruinen, stattliche Viehherden, reizende Bilder von Schmetterlingen, welche halb knospende Rosen umflogen; Vögel, welche an reifen Kirschen pickten, Nester von Zaunkönigen, in denen perlengroße Eier lagen, während junge Efeuranken sie umwucherten. Ich grübelte, ob ich jemals imstande sein würde, das kleine französische Geschichtenbuch, welches Madame Pierrot mir am gleichen Tag gezeigt hatte, fließend übersetzen zu können. Jedoch noch bevor ich diese Frage zu meiner Zufriedenheit beantwortet hatte, war ich schon sanft eingeschlafen.
    Wie recht hat Salomo: »Besser ein Mahl von frischen Kräutern, wo die Liebe ist, als ein gemästeter Ochse, wo der Hass ist.«
    Jetzt hätte ich Lowood mit all seinen Entbehrungen nicht mehr gegen Gateshead Hall mit seinem täglichen Luxus eintauschen wollen.

Neuntes Kapitel
     
    Und die Entbehrungen oder vielmehr Mühseligkeiten in Lowood wurden weniger. Der Frühling kündigte sich an – er war fast schon da: Die Winterfröste hatten aufgehört, der Schnee war geschmolzen, und die schneidenden Winde hatten nachgelassen. Meine armen, geschundenen Füße, welche das Januarwetter wund gemacht hatte, begannen sich im milderen April zu erholen und zu heilen. Die Nächte und Morgen ließen uns nicht mehr durch kanadische Temperaturen das Blut in den Adern gefrieren, und wir ertrugen es jetzt, die Freistunde im Garten zuzubringen. Zuweilen, an besonders sonnigen Tagen, begann es schon angenehm freundlich zu werden. Ein zartes Grün überzog die braunen Beete, das täglich frischer wurde und die Vorstellung erweckte, dass die Hoffnung selbst während der Nacht über sie hinschreite, um jeden Morgen schönere Spuren ihrer Schritte zurückzulassen. Unter den Blättern blickten Blumen hervor – Schneeglöckchen, Krokusse, dunkelrote Aurikeln und goldäugige Ackerveilchen. An den freien Donnerstagnachmittagen machten wir jetzt lange Spaziergänge und fanden am

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