Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
abends strömten Heckenrosen ihren würzigen Duft aus. All diese blühenden Schätze waren jetzt für die meisten Bewohnerinnen vonLowood wertlos – nur zuweilen legte man ihnen eine Handvoll Blüten und Kräuter in den Sarg.
Aber ich und die Übrigen, welche gesund blieben, genossen in vollen Zügen die Schönheit des Frühlings und der Gegend. Man ließ uns wie Zigeuner im Wald umherstreifen; wir taten von morgens bis abends nur, was uns gefiel, gingen, wohin wir wollten und führten überhaupt ein ganz anderes Leben als früher. Mr. Brocklehurst und seine Familie kamen Lowood jetzt gar nicht mehr zu nahe, die Angelegenheiten der Haushaltung wurden nicht mehr geprüft und die böse Haushälterin war fort – die Furcht vor Ansteckung hatte sie fortgetrieben. Ihre Nachfolgerin, welche zuvor in der Armenapotheke in Lowton Vorsteherin gewesen war, kannte die Gebräuche ihres neuen Aufenthalts noch nicht und versorgte uns mit verhältnismäßiger Freigebigkeit. Außerdem waren wir ja weniger geworden, die da Nahrung verlangten, und die Kranken aßen kaum. Unsere Frühstücksschüsseln wurden besser gefüllt, und wenn keine Zeit war, ein richtiges Mittagessen herzurichten – ein Fall, der ziemlich häufig eintrat –, gab die Haushälterin uns ein großes Stück kalter Pastete oder eine große Schnitte mit Brot und Käse. Diesen Proviant nahmen wir dann mit uns in den Wald hinaus, wo jede von uns ihr Lieblingsplätzchen aufsuchte und ein königliches Mahl hielt.
Mein Lieblingssitz war ein breiter, glatter Stein, welcher weiß und trocken mitten aus dem Waldbach herausragte; er war nur zu erreichen, indem man durch das Wasser watete. Dies tat ich auch ziemlich oft, und zwar barfuß. Der Stein war gerade breit genug, um außer mir noch einem anderen Mädchen einen bequemen Platz zu gewähren, und meine auserwählte Gefährtin damals war Mary Ann Wilson. Diese war ein kluges, aufmerksames Mädchen, dessen Gesellschaft mir Freude machte, zum einen, weil sie witzig und originell war, zum anderen, weil sie Manieren und Sitten hatte, welche mir besonders zusagten. Um einige Jahre älterals ich, kannte sie mehr von der Welt und konnte mir von vielen Dingen erzählen, die ich gern hörte. In ihrer Gesellschaft wurde meine Neugier befriedigt, mit meinen Fehlern hatte sie die größte Nachsicht und niemals versuchte sie, meinen Worten Zwang oder Zügel anzulegen. Sie hatte ein großes Erzähltalent, ich besaß Talent für die Analyse; sie liebte es zu belehren, ich zu fragen – so kamen wir prächtig miteinander aus und zogen, wenn auch nicht viel Belehrung, so doch viel Vergnügen aus unserem gegenseitigen Verkehr.
Und wo war inzwischen Helen Burns? Weshalb brachte ich diese schönen Tage der Freiheit nicht in ihrer Gesellschaft zu? Hatte ich sie vergessen? Oder war ich so leichtsinnig, so unwürdig, dass ich ihres guten Einflusses und ihrer Gesellschaft müde geworden war? Gewiss war Mary Ann Wilson meiner ersten Freundin nicht ebenbürtig; sie konnte mir nur lustige Geschichten erzählen oder irgendeinen witzigen Klatsch wiederholen, der mir gerade Vergnügen machte. Helen hingegen war in der Lage, denen, welche die Gunst des Umgangs mit ihr genossen, Sinn und Geschmack für höhere, reinere Dinge einzuflößen.
Dies war die Wahrheit, und ich wusste und fühlte das. Und obgleich ich ein unvollkommenes Geschöpf bin mit vielen Fehlern und nur wenigen guten Eigenschaften, so war ich Helens doch niemals überdrüssig geworden. Niemals hatte ich aufgehört, für sie eine Liebe zu hegen, die so stark, so zärtlich und so achtungsvoll war, wie nur je ein Gefühl mein Herz bewegt hat. Wie hätte es denn auch anders sein können, wo Helen mir doch zu allen Zeiten und unter allen Umständen eine ruhige und treue Freundschaft bewiesen hatte, welche keine böse Laune je verbitterte, kein Streit jemals störte? – Aber Helen war nun krank; seit mehreren Wochen war sie meinen Augen bereits entrückt. Ich wusste nicht einmal, in welchem Zimmer sie sich jetzt befand. Man hatte mir gesagt, dass sie sich nicht in derHospitalabteilung unter den Fieberkranken befände, denn ihre Krankheit war die Schwindsucht, nicht der Typhus, und ich stellte mir in meiner Unwissenheit unter Schwindsucht etwas Mildes vor, das durch Pflege und Fürsorge mit der Zeit geheilt werden könnte.
In dieser Vorstellung wurde ich noch dadurch bestärkt, dass Helen einige Male an sonnigen, warmen Nachmittagen herunterkam und von Miss Temple in den Garten geführt
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