Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
wurde. Bei diesen Gelegenheiten gestattete man mir aber nicht, mit ihr zu sprechen oder mich ihr auch nur zu nähern. Ich sah sie nur aus dem Fenster des Schulzimmers, und dann nicht einmal deutlich, denn sie war in viele Tücher gehüllt und saß in einiger Entfernung auf der Veranda.
Eines Abends zu Beginn des Monats Juni war ich sehr lange mit Mary Ann im Wald geblieben, wie gewöhnlich hatten wir uns von den anderen getrennt und waren weit gewandert, so weit, dass wir den Weg verloren und denselben in einer einsamen Hütte erfragen mussten, wo ein Mann und eine Frau wohnten, die eine Herde halbwilder Schweine zu hüten hatten, welche von den Eicheln des Waldes lebten. Als wir endlich zurückkamen, war der Mond schon aufgegangen. Ein Pony, welches wir als dem Arzt gehörig erkannten, stand an der Gartenpforte. Mary Ann bemerkte, dass wahrscheinlich irgendjemand schwer erkrankt sein müsse, wenn Mr. Bates noch so spät am Abend geholt worden sei. Sie ging ins Haus, ich blieb zurück, um noch eine Handvoll Wurzeln, die ich im Wald ausgegraben hatte, in meinem Garten einzupflanzen – ich fürchtete, dass sie bis zum nächsten Morgen verwelkt sein könnten. Nachdem dies geschehen war, verweilte ich noch einige Minuten. Die Blumen dufteten so süß, als der Tau fiel, es war ein so wunderschöner Abend, so rein, so ruhig, so warm. Und der noch gerötete Westen versprach wiederum einen schönen kommenden Tag. Im dunklen Osten stieg majestätisch der Mond empor. Ich beobachtete dies alles und freute michdaran, wie ein Kind sich zu freuen vermag. Da kam mir plötzlich ein Gedanke, wie ich ihn niemals zuvor gehabt hatte:
›Wie traurig ist es doch, jetzt auf dem Krankenbett liegen zu müssen und in Todesgefahr zu schweben! Diese Welt ist so schön – wie entsetzlich wäre es, abberufen zu werden und wer weiß wohin gehen zu müssen!‹
Und dann machte meine Seele die erste ernste Anstrengung, das zu begreifen, was man in Bezug auf Himmel und Hölle in sie gelegt hatte. Zum ersten Mal blickte ich um mich und sah vor mir, neben mir, hinter mir nichts als einen unermesslichen Abgrund; zum ersten Mal bebte meine Seele entsetzt zurück, sie empfand und fühlte nichts Sicheres mehr als den einen Punkt, auf welchem sie stand – die Gegenwart. Alles andere war eine formlose Wolke, eine unergründliche Tiefe – es schauderte mich bei dem Gedanken zu straucheln, zu wanken und in das Chaos hinabzutauchen. Als ich noch diesen neuen Gedanken nachhing, hörte ich, wie die große Haustür geöffnet wurde. Mr. Bates trat heraus, und mit ihm eine Krankenwärterin. Nachdem sie gewartet hatte, bis er aufs Pferd gestiegen und fortgeritten war, wollte sie die Tür wieder schließen. Ich lief zu ihr.
»Wie geht es Helen Burns?«
»Sehr schlecht«, lautete die Antwort.
»Ist Mr. Bates ihretwegen gekommen?«
»Ja.«
»Und was sagt er?«
»Er sagt, dass sie nicht mehr lange bei uns sein wird.«
Hätte ich diese Worte gestern gehört, so hätte ich nur angenommen, dass man sie nach Northumberland in ihre Heimat bringen wolle. Ich hätte niemals vermutet, dass es bedeuten könnte, sie würde sterben. Jetzt aber begriff ich die Worte sofort, es wurde mir augenblicklich klar, dass Helen Burns’ Tage auf dieser Welt gezählt waren und dass sie bald hinauf in die Region der Geister gehen würde –wenn es überhaupt eine solche Region gab. Im ersten Moment bemächtigte sich meiner ein namenloser Schrecken, dann empfand ich den heftigsten Schmerz, dann nur einen Wunsch – den Wunsch, sie zu sehen. Und ich fragte, in welchem Zimmer sie läge.
»Sie ist in Miss Temples Zimmer«, sagte die Wärterin.
»Kann ich hinaufgehen und mit ihr sprechen?«
»O nein, Kind! Das geht nicht an. Und jetzt ist es auch Zeit für Sie, hineinzugehen. Sie werden das Fieber bekommen, wenn Sie draußen sind, während der Tau fällt.«
Die Wärterin schloss die Haustür, ich ging durch den Seiteneingang, welcher zu dem Schulzimmer führte, und kam noch zur rechten Zeit: Es war neun Uhr, und Miss Miller rief die Schülerinnen gerade zum Schlafengehen.
Es war vielleicht zwei Stunden später, ungefähr gegen elf Uhr, und ich konnte nicht einschlafen. Aus der tiefen Ruhe, welche im Schlafzimmer herrschte, schloss ich, dass meine Gefährtinnen fest schliefen. Leise stand ich auf, zog mein Kleid über mein Nachthemd und schlich mich barfuß aus dem Gemach, um Miss Temples Zimmer zu suchen. Es befand sich am entgegengesetzten Ende des Hauses, aber ich kannte den Weg,
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