Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
zwei, drei Tagen von London aus ablegen. Er sah aus wie ein Gentleman, und ich glaube, dass er Ihres Vaters Bruder war.«
»In welches fremde Land ging er denn, Bessie?«
»Auf eine Insel, die Tausende Meilen entfernt ist und wo sie Wein machen – der Kellermeister hat mir das gesagt.«
»Nach Madeira vermutlich?«
»Ja, ja, das war’s, so hieß sie.«
»Und dann ging er wieder fort?«
»Ja. Er blieb nur wenige Minuten im Haus. Mrs. Reed war sehr von oben herab mit ihm. Nachher sagte sie von ihm, er wäre ein ›armseliger Handelsmann‹ gewesen. Mein Robert glaubt, dass er ein Weinhändler war.«
»Gut möglich«, entgegnete ich, »oder vielleicht der Angestellte oder der Agent eines Weinhändlers.«
Noch eine ganze Stunde lang sprachen Bessie und ich von alten Zeiten, und dann war sie gezwungen, mich zu verlassen. Als ich am nächsten Morgen in Lowton auf die Postkutsche wartete, sah ich sie noch für einige Minuten wieder. Schließlich trennten wir uns vor der Tür des »Brocklehurst Arms« und jede ging ihrer Wege: Sie begab sich auf die Kuppe des Berges von Lowood, wo der Wagen vorüberkam, der sie nach Gateshead zurückbringen sollte; ich bestieg das Gefährt, das mich in die unbekannte Gegend von Millcote brachte, einem neuen Leben und neuen Pflichten entgegen.
Elftes Kapitel
Ein neues Kapitel in einem Roman ist wie ein neuer Akt in einem Schauspiel. Wenn ich nun den Vorhang wiederum in die Höhe ziehe, lieber Leser, so musst du dir ein Zimmer im »George Inn« in Millcote vorstellen, mit großgemusterten Tapeten an den Wänden, wie sie in Gasthauszimmern üblich sind, mit dazu passenden Teppichen, Möbeln und Nippesfiguren auf dem Kaminsims, mit Kupferstichen von George III., dem Prinzen von Wales und einer Darstellung des Todes von General Wolfe. Und all dies siehst du beim Schein einer Öllampe, welche von der Decke herabhängt, und einem hellen Kaminfeuer, neben welchem ich in Mantel und Hut sitze. Muff und Regenschirm liegen auf dem Tisch.Ich versuche, mich an der Wärme des Ofens von der Steifheit und Betäubung zu erholen, welche das Resultat einer sechzehnstündigen Reise in kaltem Oktoberwetter waren. Um vier Uhr früh hatte ich Lowton verlassen und jetzt schlug die Stadtuhr von Millcote gerade die achte Stunde.
Lieber Leser, wenn es auch den Anschein hat, als ob ich mich ganz behaglich fühlte, so befindet mein Gemüt sich doch durchaus in keiner beneidenswerten Verfassung. Ich hatte gehofft, hier bei Ankunft der Postkutsche jemanden zu meinem Empfang vorzufinden. Als ich die hölzerne Treppe hinabstieg, welche der Hausknecht zu meiner größeren Bequemlichkeit an den Wagen gestellt hatte, blickte ich ängstlich umher in der Erwartung, von irgendjemandem meinen Namen zu hören und einen Wagen zu erblicken, welcher meiner harrte, um mich nach Thornfield zu bringen. Aber nichts Derartiges war sichtbar, und als ich den Kellner fragte, ob jemand da gewesen sei, um sich nach Miss Eyre zu erkundigen, wurde meine Frage verneint. So blieb mir also nichts anderes übrig, als um ein Zimmer zu bitten – und hier sitze ich nun, während Furcht und Zweifel aller Art meine Seele martern.
Für die unerfahrene Jugend ist es ein seltsames Gefühl, sich plötzlich ganz allein in der Welt zu sehen, von jeder Verbindung getrennt, durch Tausend Schwierigkeiten an der Rückkehr in den sicheren Ursprungshafen gehindert und gänzlich im Ungewissen, ob man den Hafen, welchen man anstrebt, auch erreichen wird. Der Reiz des Neuen und die Freude am Abenteuer versüßen das Gefühl, das Bewusstsein der Selbstständigkeit erwärmt es – aber die Empfindung der Furcht dämpft es auch wieder. Und kaum war eine halbe Stunde vergangen, in welcher ich noch immer allein war, so wurde das Gefühl der Furcht vorherrschend. Da fiel mir ein, nach dem Kellner zu läuten.
»Ist hier in der Nähe ein Ort, welcher Thornfield heißt?«, fragte ich den Kellner, welcher auf mein Klingeln erschien.
»Thornfield? Ich weiß nicht, Madam. Ich werde mich in der Schankstube erkundigen.« Er verschwand, kam aber augenblicklich wieder zurück:
»Ist Ihr Name Eyre, Miss?«
»Ja.«
»Es wartet jemand auf Sie.«
Ich sprang auf, griff nach Muff und Regenschirm und eilte in den Korridor des Gasthauses. Ein Mann stand in der offenen Tür und auf der von Laternen erhellten Straße konnte ich die Umrisse eines einspännigen Gefährts erkennen.
»Dies ist wohl Ihr Gepäck?«, sagte der Mann in der Tür hastig, als er meiner ansichtig
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