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Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)

Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)

Titel: Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Brontë
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schwaches Abbild dessen geworden, was mir vorgeschwebt hatte.
    Die Bilder waren in Wasserfarben gemalt. Das erste Aquarell stellte düstere, blaugraue, tiefhängende Wolken über einer wildbewegten See dar. Die Ferne lag ebenso in Finsternis wie der Vordergrund, oder vielmehr: die vorderen Wellen, denn es war gar kein Land auf dem Bild. Ein einziger Lichtstrahl fiel auf einen halb aus dem Wasser herausragenden Mast, auf welchem dunkel und groß ein Kormoran saß, dessen Flügel mit Wellenschaum bespritzt waren. Im Schnabel hielt er ein goldenes Armband, welches mit Edelsteinen reich besetzt war. Diesen hatte ich die reichsten Farben verliehen, welche meine Palette besaß, die strahlendste Deutlichkeit, zu der mein Zeichenstift fähig war. Hinter Mast und Vogel schien ein ertrunkener Leichnam in dem grünen Wasser zu versinken; ein weißer Arm war das einzige Glied, das deutlich sichtbar war. Von ihm war das Armband heruntergespült oder gerissen.
    Der Vordergrund des zweiten Bildes zeigte nur die neblige Spitze eines Berges, mit Grashalmen und Blättern, die sich im Wind neigten. Hinter und über dem Gipfel breitete sich der Himmel aus, tiefblau wie zur Dämmerzeit. In denHimmel hinein ragten die Umrisse einer Frau, die ich in so weichen und unbestimmten Farben gemalt hatte, wie es nur möglich war. Die klare Stirn war von einem Stern gekrönt, die unteren Gesichtszüge sah man nur wie durch dichten Nebel. Die Augen glänzten dunkel und wild, das Haar fiel schattengleich herab wie eine glanzlose Wolke, welche der Sturm oder die Elektrizität zerrissen hat. Auf ihrem Nacken lag ein bleicher Schein wie von Mondesstrahlen, und derselbe matte Glanz ruhte auch auf den dünnen Wolken, aus welchen diese Vision des Abendsterns emporzusteigen schien.
    Das dritte Bild zeigte die Spitze eines Eisberges, die in den nördlichen Winterhimmel hineinragte. Am Horizont schoss ein Nordlicht seine schlanken Lanzen dicht nebeneinander empor. Es erschien jedoch nichtig gegenüber einem sich im Vordergrund erhebenden Kopfe – einem kolossalen Kopf, welcher sich dem Eisberg zuneigte und an diesem ruhte. Zwei magere Hände, die sich unter der Stirn kreuzten und diese stützten, zogen einen schwarzen Schleier vor die unteren Gesichtszüge. Allein eine bleiche Stirn, weiß wie Elfenbein, und ein hohles, starres Auge, das keinen anderen Ausdruck hatte als den der Verzweiflung, waren sichtbar. Über den Schläfen, zwischen turbanartigen Falten aus düsterem Stoff, der in Form und Farbe unbestimmt wie eine Wolke war, glänzte ein Ring von weißen Flammen, auf dem hier und da Funken von noch intensiverem Glanz leuchteten. Dieser blasse Halbkreis war »Das Abbild einer Königskrone«, und was sie krönte, war »Die Form, die keine Form hat«.
    »Waren Sie glücklich, als Sie diese Bilder malten?«, fragte Mr. Rochester.
    »Ich hatte mich in die Arbeit vertieft, Sir; ja – ich war glücklich. Als ich sie malte, empfand ich eine der höchsten Freuden, die ich jemals gekannt.«
    »Das will nicht viel sagen. Nach Ihrer eigenen Erzählungsind Ihrer Freuden nicht viele gewesen; aber ich vermute, dass Sie sich in einer Art ›Traumland des Künstlers‹ befanden, als Sie diese seltsamen Farben mischten und auf die Leinwand übertrugen. Haben Sie täglich viele Stunden bei dieser Arbeit zugebracht?«
    »Ich hatte nichts anderes zu tun, da es Ferienzeit war, und ich saß vom Morgen bis zum Mittag und vom Mittag bis zum Abend daran. Die Länge der Mittsommertage begünstigte meine Neigung zum Fleiß.«
    »Und waren Sie mit dem Resultat Ihrer angestrengten Arbeit zufrieden?«
    »Weit entfernt davon. Der Abstand zwischen meiner Idee und meiner Ausführung quälte mich; in jedem dieser drei Fälle hatte mir etwas vorgeschwebt, was ich nicht verwirklichen konnte.«
    »Nicht ganz. Den Schatten Ihrer Gedanken festzuhalten, ist Ihnen immerhin gelungen. Aber wahrscheinlich auch nicht mehr. Sie hatten nicht genug künstlerisches Geschick und Kenntnisse, um Ihre Gedanken lebendig werden zu lassen. Für ein Schulmädchen sind die Zeichnungen immerhin beachtenswert. Die Ideen sind geisterhaft. Diese Augen in dem ›Abendstern‹ müssen Sie einmal im Traum gesehen haben. Wie haben Sie es nur angefangen, sie so klar und trotzdem nicht glänzend wiederzugeben? Denn der Stern oberhalb der Stirn schwächt ihre Strahlen. Und welche Bedeutung liegt in ihrer feierlichen Tiefe? Und wer hat Sie gelehrt, den Wind zu malen? Unter diesem Himmel und über jenem Berggipfel tobt

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