Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
erblickt, als sie ihr schon ein Zeichen machte, zum Sofa zu kommen. Dort füllte sie ihr den Schoß mit dem ganzen Inhalt ihrer
boîte
von Porzellan, Elfenbein und Wachs und gab zugleich ihr Entzücken in dem kleinen Vorrat von Englisch zu erkennen, dessen sie mächtig war.
»Jetzt habe ich die Rolle eines liebenswürdigen Wirtes gespielt und meinen Gästen den Weg gezeigt, auf dem sie sich miteinander amüsieren können«, fuhr Mr. Rochester fort. »Nun sollte es mir aber auch erlaubt sein, meinen eigenenVergnügungen nachzugehen. Miss Eyre, ziehen Sie Ihren Stuhl noch ein klein wenig näher, Sie sitzen noch zu weit entfernt. Ich kann Sie nicht sehen, ohne meine bequeme Lage in diesem prächtigen Stuhl aufzugeben, und dazu habe ich wirklich keine Lust.«
Ich tat, wie mir geheißen wurde, obgleich ich viel lieber ein wenig im Schatten geblieben wäre. Aber Mr. Rochester hatte eine so direkte Art, seine Befehle zu erteilen, dass es die natürlichste Sache der Welt war, ihm augenblicklich zu gehorchen.
Wie ich schon erwähnt habe, befanden wir uns im Speisezimmer. Der Kronleuchter, dessen Kerzen für das Essen angezündet worden waren, erfüllte das Zimmer mit einem festlichen Glanz; das große Feuer brannte rot und hell; die Purpurvorhänge hingen in reichen Falten vor dem hohen Bogenfenster und der noch höheren Bogentür. Ringsum herrschte Ruhe, nur Adèles leises Geplauder – sie wagte nicht, laut zu sprechen – unterbrach dann und wann die Stille. Draußen schlug der Winterregen kaum hörbar gegen die Scheiben.
Wie Mr. Rochester so in seinem prächtigen Lehnstuhl dasaß, sah er ganz anders aus, als er mir bis dahin erschienen war – nicht ganz so streng, weniger finster. Auf seinen Lippen war ein Lächeln, und seine Augen funkelten. Ob dies die Wirkung des Weins war oder nicht, kann ich nicht sagen, ich halte es aber für wahrscheinlich. Kurzum, er war in seiner Nachtischlaune: entspannt, jovial und sich gehen lassend; ganz anders als in seiner kalten und strengen Morgenstimmung. Und doch sah er immer noch ein wenig grimmig aus, wie er seinen massiven Kopf gegen die schwellenden Polster des Lehnstuhls legte und der Schein des Feuers auf seine wie aus Granit gehauenen Züge und seine großen, dunklen Augen fiel – denn er hatte große, dunkle und obendrein sehr schöne Augen. Zuweilen wechselte der Ausdruck in ihrer Tiefe, und wenn es auch nicht gerade Zärtlichkeit war, diesich dort spiegelte, so erinnerte es doch wenigstens an diese Empfindung.
Wohl zwei Minuten hatte er ins Feuer geblickt, und ebenso lange hatte ich ihn angesehen – da wandte er sich plötzlich um und erhaschte meinen Blick, der noch auf seiner Physiognomie ruhte.
»Sie prüfen mein Gesicht, Miss Eyre?«, sagte er. »Finden Sie mich schön?«
Nach einiger Überlegung würde ich auf diese Frage wohl mit irgendeiner konventionellen Höflichkeit geantwortet haben; aber ehe ich selbst recht wusste wie, entschlüpfte die Antwort schon meinen Lippen: »Nein, Sir.«
»Ah! Auf mein Wort, Sie haben etwas ganz Eigentümliches an sich«, sagte er. »Sie sehen aus wie eine kleine Nonne: einfach, ruhig, ernst und selbstbewusst, wie Sie so mit gefalteten Händen dasitzen und den Blick gewöhnlich auf den Teppich heften. Ausgenommen natürlich, wenn sie auf mein Gesicht starren, wie gerade eben. Und wenn man dann eine Frage an Sie richtet oder eine Bemerkung macht, auf welche Sie zu antworten gezwungen sind, so kommen Sie mit einer Entgegnung, die, wenn auch nicht gerade grob, so doch wenigstens brüsk ist. Was bezwecken Sie eigentlich damit?«
»Sir, ich war wohl zu direkt, ich bitte um Entschuldigung. Ich hätte antworten müssen, dass es nicht so leicht ist, aus dem Stegreif eine Frage über die äußere Erscheinung zu beantworten; dass der Geschmack verschieden ist; dass Schönheit wenig bedeutet, oder irgendetwas Ähnliches.«
»Nein, Sie hätten durchaus nichts Ähnliches antworten müssen. Schönheit soll wenig bedeuten, o je! Und so, unter dem Vorwand, die vorhergehende Beleidigung wiedergutzumachen, mich zu streicheln und zu beruhigen, stoßen Sie mir ein feines, kleines Messer in den Nacken! Fahren Sie nur fort, welche Fehler finden Sie sonst noch an mir? Bitte, sprechen Sie! Meine Glieder und Gesichtszüge sind doch hoffentlich nicht anders als bei anderen Leuten?«
»Mr. Rochester, erlauben Sie mir, meine erste Antwort zurückzunehmen. Ich hatte nicht die Absicht, eine spitze Bemerkung zu machen, es war wirklich nur eine
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