Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
ein heftiger Sturm. Wo haben Sie Latmos gesehen? Denn das ist Latmos. Hier – tragen Sie die Zeichnungen wieder fort.«
Kaum hatte ich die Bänder meiner Zeichenmappe wieder zusammengebunden, als er auf seine Uhr sah und dann plötzlich sagte:
»Es ist neun Uhr. Was fällt Ihnen ein, Miss Eyre, Adèle so lange aufbleiben zu lassen? Bringen Sie sie zu Bett!«
Adèle gab ihm einen Kuss, bevor sie das Zimmer verließ. Er ließ sich die Liebkosung gefallen, aber er schien kaum mehr Freude daran zu finden, als Pilot es hätte, wahrscheinlich sogar weniger.
»Ich wünsche Ihnen allen eine gute Nacht«, sagte er, und machte eine Handbewegung nach der Tür, zum Zeichen, dass er unserer Gesellschaft müde sei und uns entließe. Mrs. Fairfax legte ihr Strickzeug zusammen, und ich nahm meine Zeichenmappe. Wir verneigten uns vor ihm, erhielten eine steife und kalte Verbeugung als Gegengruß, und zogen uns dann zurück.
»Mrs. Fairfax, Sie sagten, dass Mr. Rochester keine auffallenden Eigentümlichkeiten besitze«, bemerkte ich, als ich wieder zu ihr ins Zimmer trat, nachdem ich Adèle ins Bett gebracht hatte.
»Nun, und besitzt er solche?«
»Ich glaube wohl. Er ist sehr launenhaft und abrupt.«
»Das ist allerdings wahr. Ohne Zweifel muss er einem Fremden so erscheinen, aber ich bin schon so lange an seine Art und Weise gewöhnt, dass ich mir gar keine Gedanken mehr darüber mache. Und überdies sollte man sich nicht darüber wundern, wenn seine Laune nicht immer gleichmäßig ist.«
»Weshalb?«
»Teilweise, weil es in seiner Natur liegt – und keiner von uns kann gegen seine Natur kämpfen; hauptsächlich aber, weil er wohl oft traurige und qualvolle Gedanken haben mag, die ihn peinigen und seine gute Laune stören.«
»Was quält ihn denn?«
»Familienkummer vor allen Dingen.«
»Aber er hat ja keine Familie.«
»Jetzt nicht mehr, aber er hatte eine. Verwandte wenigstens. Er verlor seinen älteren Bruder vor einigen Jahren.«
»Seinen
älteren
Bruder?«
»Ja. Der gegenwärtige Mr. Rochester ist noch nicht sehrlange im Besitz der Güter und des Vermögens; erst ungefähr seit neun Jahren.«
»Neun Jahre
sind
eine lange Zeit! Liebte er seinen Bruder so sehr, dass er jetzt noch über seinen Verlust untröstlich ist?«
»Warum? Nein, das ist eher nicht der Fall. Ich glaube, dass einige Missverständnisse zwischen ihnen gewesen sind. Mr. Rowland Rochester war Mr. Edward gegenüber nicht ganz gerecht, und vielleicht war er es auch, der den Vater gegen ihn einnahm. Der alte Herr liebte das Geld gar sehr und war stets ängstlich darauf bedacht, das Familienvermögen und die Güter zusammenzuhalten. Der Gedanke, den Besitz durch Teilung zu verringern, war ihm unangenehm, und doch wünschte er, dass auch Mr. Edward reich sein solle, um den Glanz des Namens aufrechtzuerhalten. Und bald nachdem er volljährig geworden war, wurden einige Schritte getan, die nicht ganz redlich waren und sehr viel Unheil anrichteten. Der alte Mr. Rochester und Mr. Rowland brachten Mr. Edward in eine, wie er es empfand, peinliche Lage, durch die er ein Vermögen erwerben sollte. Welcher Art diese Lage war, habe ich nicht genau erfahren, aber sein Gemüt konnte niemals überwinden, was er dadurch zu leiden hatte. Er brach mit seiner Familie und hat jetzt seit vielen Jahren ein unstetes Leben geführt. Ich glaube nicht, dass er seit dem Tod seines Bruders, der ohne Testament starb und ihm die Güter hinterließ, vierzehn Tage hintereinander in Thornfield ausgehalten hat. Und in der Tat, es ist ja auch kein Wunder, wenn er das alte Haus meidet.«
»Weshalb sollte er es denn meiden?«
»Vielleicht erscheint es ihm bedrückend.«
Die Antwort klang ausweichend. Ich hätte gerne etwas Bestimmteres erfahren, aber Mrs. Fairfax wollte oder konnte mir keine genauere Auskunft über die Ursache oder die Art von Mr. Rochesters Prüfungen geben. Sie behauptete, dass diese auch für sie ein Geheimnis seien, und dassalles, was sie wisse, nur auf Vermutungen basiere. Es war augenscheinlich, dass sie wünschte, ich möge den Gegenstand fallenlassen. – Und das tat ich auch.
Vierzehntes Kapitel
Während der folgenden Tage sah ich Mr. Rochester wenig. Morgens schien er ganz von Geschäften in Anspruch genommen, und am Nachmittag kamen gewöhnlich Herren aus Millcote oder der Nachbarschaft, um ihre Besuche zu machen und zuweilen auch, um am Essen teilzunehmen. Als seine Verstauchung soweit geheilt war, dass er wieder aufs Pferd steigen konnte,
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