Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
gewisse Schwäche, dem anderen würde sich kein Freigeborener fügen, nicht einmal um eines Lohnes willen.«
»Unsinn! Die meisten frei geborenen Geschöpfe würden alles ertragen um eines Lohnes willen. Deshalb urteilen Sie nur für sich selbst, und sprechen Sie nicht über Allgemeinheiten,von denen sie keine Ahnung haben. Indessen schüttele ich Ihnen im Geiste die Hand für Ihre Antwort, obgleich sie nicht treffend war, und ebenso sehr für die Art, in welcher Sie sie gaben: offen und aufrichtig. Das trifft man nicht allzu oft an. Nein, im Gegenteil, Ziererei oder Kälte, oder dummes, gemeines Missverstehen der Absicht sind der gewöhnliche Lohn für Aufrichtigkeit. Unter dreitausend eben der Schule entwachsenen Gouvernanten würden nicht drei mir geantwortet haben, wie Sie es soeben taten. Aber ich habe nicht die Absicht, Ihnen zu schmeicheln; wenn Sie in einer anderen Form gegossen sind als die Mehrzahl, so ist das nicht Ihr eigenes Verdienst, die Natur hat es getan. Und dann bin ich auch wahrscheinlich zu voreilig mit meinen Schlüssen, denn wie kann ich eigentlich wissen, ob Sie besser sind als die Übrigen? Sie können ja unzählige unerträgliche Mängel und Fehler haben, welche Ihren paar guten Seiten das Gegengewicht halten.«
›Ebenso wie Sie‹, dachte ich bei mir. Als dieser Gedanke mein Hirn kreuzte, begegnete mein Blick dem seinen; er schien in ihm zu lesen, und er antwortete mir, als hätte ich laut gedacht:
»Jaja, Sie haben recht«, sagte er, »ich habe selbst eine Menge Fehler. Ich weiß das sehr wohl und versuche durchaus nicht, sie zu beschönigen, dessen versichere ich Sie. Gott weiß, dass ich keine Ursache habe, andern gegenüber zu streng zu sein. Mein früheres Dasein, eine lange Folge von Taten, meine Lebensführung sind in meiner Brust verzeichnet, welche mein Naserümpfen und mein Urteil leicht von meinem Nächsten auf mich selbst lenken könnten. Im Alter von einundzwanzig Jahren brachte man mich – denn wie andere Sünder schiebe auch ich gern die Hälfte der Schuld auf ein trauriges Schicksal und auf widrige Umstände – auf den falschen Pfad, und seitdem ist es mir noch nicht geglückt, den rechten Weg wiederzufinden. Aber ich hätte ein anderer Mensch sein
können
; ich hätte vielleichtso gut sein können wie Sie – klüger, und fast so untadelig. Ich beneide Sie um Ihren Seelenfrieden, um Ihr reines Gewissen, Ihre unbefleckte Erinnerung! Mein kleines Mädchen, eine Erinnerung ohne einen dunklen Fleck, ohne Vorwurf muss ein großer Schatz sein – eine unerschöpfliche Quelle reinster Erfrischung, ist es nicht so?«
»Wie waren Ihre Erinnerungen denn, als Sie achtzehn Jahre zählten?«
»Oh, damals war alles noch gut – klar, durchsichtig und gesund. Damals hatte noch kein einströmendes Kielwasser sie zu einem faulen Tümpel gemacht. Mit achtzehn Jahren war ich Ihnen gleich – ganz gleich. Die Natur hatte mich im großen Ganzen zu einem guten Menschen bestimmt, Miss Eyre, zu einem von der besseren Sorte – und wie Sie sehen, bin ich es doch nicht geworden. Sie könnten mir nun erwidern, dass Sie das nicht sehen; wenigstens schmeichle ich mir, das in Ihren Augen zu lesen. Nebenbei gesagt, hüten Sie sich davor, irgendetwas durch die Augen zu verraten, denn ich bin sehr rasch darin, diese Sprache zu deuten. Aber nehmen Sie mein Wort darauf – ich bin kein Schurke, das dürfen Sie nicht annehmen, solch einen Rang dürfen Sie mir nicht zutrauen. Nein, ich bin eher dank der Umstände als nach meinem eigenen natürlichen Hang ein ganz gewöhnlicher Sünder geworden, schon abgenützt durch all die gemeinen und armseligen Zerstreuungen, mit denen die Reichen und Liederlichen das Leben auszuschmücken pflegen. Wundern Sie sich darüber, dass ich Ihnen dies Geständnis mache? Sie sollten wissen, dass Sie in Zukunft wohl noch oft zur unfreiwilligen Vertrauten der Geheimnisse Ihrer Bekanntschaften gemacht werden. Instinktiv werden die Menschen stets, wie ich es getan habe, herausfinden, dass Ihre Stärke darin besteht, nicht von sich selbst zu reden, sondern aufmerksam zuzuhören, wenn andere von sich sprechen. Sie werden auch herausfühlen, dass Sie nicht mit spöttischer Verachtung auf die Ergüsse ihrer Indiskretionenhorchen, sondern mit wirklicher Sympathie, welche tröstlich und ermutigend ist, weil sie sich weder laut noch aufdringlich kundtut.«
»Woher wissen Sie das? – Wie können Sie dies alles erraten, Sir?«
»Ich weiß es sehr wohl, deshalb spreche ich so frei
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