Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
von der Leber weg, als ob ich meine Gedanken in ein Tagebuch schriebe. Sie möchten mir gern sagen, dass ich stärker als die Verhältnisse hätte sein müssen – ja, das hätte ich sein müssen, das hätte ich sein müssen. Aber Sie sehen – ich war es nicht. Als das Schicksal mir ein Unrecht zufügte, besaß ich nicht genug Weisheit, um kalt und ruhig zu bleiben; ich geriet in Verzweiflung – dann verkam ich. Und wenn heute irgendein lasterhafter Dummkopf durch schäbige Zoten meinen Ekel erweckt, so kann ich mir nicht mehr schmeicheln, dass ich besser bin als er. Ich bin gezwungen zuzugeben, dass er und ich auf der gleichen Stufe stehen. Ach, wie sehr wünsche ich mir, dass ich standhaft geblieben wäre, Gott allein weiß, wie innig ich es wünsche! Wenn die Versuchung an Sie herantritt, Miss Eyre, so fürchten Sie sich vor Gewissensbissen! Gewissensqualen vergiften das Leben!«
»Aber Sir, man sagt, dass die Reue sie heilt!«
»Nein, Reue heilt sie nicht! Sich
ändern
mag Heilung für sie sein, und ich könnte mich bessern, ich besitze noch Kraft genug dazu, wenn … Aber was nützt es denn, auch nur daran zu denken, gehindert, belastet, verflucht, wie ich bin? Und außerdem, da das Glücklichsein mir unwiderruflich versagt ist, habe ich doch wenigstens das Recht, dem Leben so viel Vergnügen abzugewinnen wie möglich. Und dieses will ich haben, koste es, was es wolle!«
»Aber dann werden Sie immer tiefer sinken, Sir.«
»Möglich. Aber warum sollte ich, wenn ich süße, neue Vergnügungen haben kann? Und ich kann solche haben, so süß, so frisch, so unberührt wie der Honig, welchen die Biene im Wald sammelt.«
»Aber diese Freuden werden stechen, sie werden bitter schmecken, Sir.«
»Wie können Sie das wissen? – Sie haben es ja niemals versucht. Wie unendlich ernst, wie feierlich Sie aussehen! Und dabei verstehen Sie so wenig von der Sache wie diese Kamee hier«, und er nahm einen in Stein geschnittenen Kopf vom Kaminsims.
»Sie haben kein Recht, mir zu predigen. Sie sind eine Neophytin, welche noch nicht durch das Tor des Lebens gegangen ist, Sie sind mit den Mysterien ja noch gänzlich unvertraut.«
»Ich erinnere Sie nur an Ihre eigenen Worte, Sir. Sie sagten, dass Fehltritte nur Gewissensbisse bringen, und Sie erklärten Gewissensbisse als das Gift des Lebens.«
»Wer spricht denn jetzt von Fehlern? Ich glaube kaum, dass der Gedanke, welcher gerade mein Hirn durchkreuzte, ein Fehler war. Ich glaube, es war eher eine Eingebung als eine Versuchung, sehr beruhigend und sehr belebend. Und hier kommt dieser Gedanke schon wieder! Er ist kein Teufel, das versichere ich Ihnen; oder wenn doch, so hat er jedenfalls das Kleid eines Engels des Lichts angelegt. Einen so schönen Gast muss ich doch einlassen, wenn er so flehentlich Einlass in mein Herz begehrt!«
»Misstrauen Sie ihm, Sir; er ist kein wahrer Engel.«
»Noch einmal: Wie können Sie das wissen? Kraft welchen Instinkts glauben Sie, zwischen einem gefallenen Engel aus dem Abgrund der Hölle und einem Boten vom Thron des Ewigen unterscheiden zu können – zwischen einem Führer und einem Verführer?«
»Ich urteilte nach Ihrem Gesicht, Sir, und dieses sah kummervoll aus, als Sie sagten, dass jener Gedanke Sie abermals heimsuche. Ich bin überzeugt, dass noch mehr Elend für Sie daraus entspringt, wenn Sie ihm Gehör schenken.«
»Durchaus nicht. Es ist die lieblichste Botschaft der Welt; und überdies sind Sie ja nicht die Hüterin meines Gewissens,deshalb beruhigen Sie sich. Hier, komm herein, lieblicher Wanderer!«
Die letzten Worte sprach er wie zu einer Erscheinung, die keinem anderen Auge sichtbar war als dem seinen. Dann verschränkte er die Arme, welche er halb ausgebreitet hatte, über der Brust und schien das unsichtbare Wesen in eine innige Umarmung zu schließen.
»Jetzt«, fuhr er zu mir gewendet fort, »habe ich den Pilger eingelassen – eine verkleidete Gottheit, wie ich glaube. Sie hat mir schon Liebes getan; mein Herz war eine Art von Beinhaus; jetzt wird es ein Altar sein.«
»Wenn ich die Wahrheit gestehen soll, Sir, so verstehe ich Sie durchaus nicht. Ich kann das Gespräch nicht weiterführen, weil es mein Fassungsvermögen übersteigt. Ich weiß nur eins: Sie sagten, dass Sie nicht so gut seien, wie Sie selbst zu sein wünschten; und dass Sie Ihre eigene Unvollkommenheit tief beklagten. Das kann ich wohl verstehen. Sie deuteten an, dass es ein ewig wirkendes Gift sei, eine Vergangenheit zu haben, welche nicht
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