Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
ganz rein ist. Mir ist’s, als sollte es Ihnen mit der Zeit möglich sein, das zu werden, was Sie zu sein wünschen. Wenn Sie es nur ernstlich versuchten, wenn Sie von heute an den festen Entschluss fassten, Ihre Taten und Gedanken zu bessern, so würden Sie finden, dass Sie in wenigen Jahren einen neuen und fleckenlosen Vorrat von Erinnerungen haben würden, auf die Sie stets mit Freuden zurückblicken könnten.«
»Sehr richtig gedacht und richtig gesagt, Miss Eyre. Und in diesem selben Augenblick pflastere ich mit größter Energie den Weg zur Hölle.«
»Sir?«
»Mit guten Vorsätzen, welche ebenso hart wie Kieselsteine sind. Ganz gewiss, meine Gefährten, meine Freunde, meine Beschäftigungen sollen andere werden, als sie es bisher waren.«
»Und bessere?«
»Und bessere. So wie reines Erz besser ist als schmutzige Schlacke. Sie scheinen an mir zu zweifeln; ich selbst zweifle nicht. Ich kenne mein Ziel, ich kenne meine Motive. Und jetzt, in diesem Augenblick, erlasse ich ein Gesetz, unverrückbar, unantastbar wie das der Meder und Perser, dass beide im Recht sind.«
»Das können sie aber nicht sein, Sir, wenn sie dafür ein neues Gesetz benötigen.«
»Sie sind es doch, Miss Eyre, obgleich sie durchaus ein neues Gesetz verlangen. Außergewöhnliche Umstände und Verhältnisse verlangen auch außergewöhnliche Regeln und Gesetze.«
»Das scheint mir eine gefährliche Maxime, Sir, weil man auf den ersten Blick sehen kann, dass sie leicht missbraucht werden kann.«
»Eine treffende Weisheit. Aber ich schwöre bei den Penaten meines Hauses, dass ich sie nicht missbrauchen werde.«
»Sie sind auch nur ein Mensch und fehlbar.«
»Das weiß ich, aber Sie sind es ebenfalls. Was nun?«
»Die, die da menschlich sind und fehlbar, sollten sich nicht eine Macht aneignen, welche nur der Ewige mit Sicherheit handhaben kann.«
»Welche Macht?«
»Jene, von seltsamen und nicht sanktionierten Handlungen sagen zu dürfen: Sie sollen gerecht sein.«
»›Sie sollen gerecht sein.‹ Ja, ja, das sind die rechten Worte: Sie haben sie ausgesprochen.«
»Sie
können
gerecht sein«, sagte ich, indem ich mich erhob. Ich hielt es für nutzlos, ein Gespräch weiterzuführen, bei welchem ich gänzlich im Dunkeln tappte. Außerdem fühlte ich, dass der Charakter meines Gegenübers sich gänzlich meiner Beurteilung entzog, wenigstens meinem augenblicklichen Urteilsvermögen, und die Unsicherheit bemächtigte sich meiner, welche stets die Überzeugung der eigenen Unwissenheit begleitet.
»Wohin gehen Sie?«
»Ich will Adèle ins Bett bringen; es ist schon über ihre gewöhnliche Schlafenszeit hinaus.«
»Sie fürchten sich vor mir, weil ich dunkel spreche wie eine Sphinx.«
»Ihre Sprache ist allerdings rätselhaft, Sir. Aber obgleich ich verblüfft bin, fürchte ich mich doch nicht.«
»Sie fürchten sich doch, Ihre Eigenliebe fürchtet sich, einen Irrtum zu begehen.«
»Ja, in dieser Beziehung fürchte ich mich allerdings. Ich wünsche nicht, Unsinn zu schwatzen.«
»Und wenn Sie dies wirklich täten, so würde es in einer so ernsten, ruhigen Weise geschehen, dass ich es für sehr sinnreich halten würde. Lachen Sie niemals, Miss Eyre? Bemühen Sie sich nicht, mir zu antworten – ich sehe, Sie lachen nur selten. Aber Sie können sehr fröhlich lachen. Glauben Sie mir, von Natur sind Sie ebenso wenig unfreundlich, wie ich lasterhaft bin. Der Zwang von Lowood lastet noch immer ein wenig auf Ihnen; er beherrscht Ihre Züge, dämpft Ihre Stimme und lähmt Ihre Glieder; und Sie fürchten in Gegenwart eines Mannes und Bruders – oder Vaters oder Herrn, sei es, wer es sei – zu fröhlich zu lachen, zu frei zu sprechen oder sich ungezwungen zu bewegen. Aber ich hoffe, dass Sie es mit der Zeit lernen werden, mir gegenüber natürlich zu sein, denn ich finde es ganz unmöglich, mit Ihnen so förmlich zu verkehren. Dann werden Ihre Züge und Ihre Bewegungen mehr Freiheit und Lebhaftigkeit und Abwechselung annehmen, als sie sich jetzt erlauben. Zuweilen hasche ich durch die engen Stäbe eines Käfigs den Anblick eines seltsamen Vogels: Ein lebhafter, ruheloser, entschlossener Gefangener sitzt drinnen; wäre er aber frei, so würde er hoch in die Lüfte steigen. – Wollen Sie noch immer gehen?«
»Es hat bereits neun Uhr geschlagen.«
»Das schadet nichts, warten Sie noch eine Minute! Adèleist noch nicht bereit, sich schlafen zu legen. Mein Platz hier mit dem Rücken gegen das Feuer und dem Gesicht gegen das Zimmer
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