Jane True 02 - Meeresblitzen
dabei, Sachen zu tragen, die jemand aus seiner Hose gezaubert hatte.
»Von dem Mädchen keine Spur«, sagte Ryu. »Ganz offensichtlich ist uns jemand zuvorgekommen.«
»Aber erst vor kurzem«, warf ich ein. Ryu und die anderen drehten sich fragend zu mir um. Graeme stierte mir auf die Brüste, bis Anyan ihn dabei ertappte und ihm mit der flachen Hand auf den Hinterkopf schlug.
»Die Pflanzen in den zerbrochenen Töpfen leben noch«, erklärte ich und zeigte auf die gesunden, grünen Blätter, die aus ihrem Grab aus zersplittertem Ton sprießten.
Ryu lächelte mich an, und ich errötete.
»Okay, Leute. Versuchen wir uns ein Bild von Felicias Leben zu machen. Julian, was wissen wir bisher?«
Der jüngere Baobhan Sith sah auf. Sein Blick war die ganze Zeit auf den Laptopbildschirm geheftet gewesen, vermutlich seit wir Cons Schlupfloch vor ein paar Stunden verlassen hatten.
»Ich habe da schon einiges. Ihre Eltern starben, als sie acht Jahre alt war; sie ist Einzelkind. Sie wuchs bei einer Großmutter auf, bis sie aufs College kam.« Julian redete weiter über ihre Ausbildung, was ich aber schon alles wusste, weil ich all die Diplome gesehen hatte. Also beugte ich mich, statt weiter zuzuhören, hinunter, um ein gutes Foto von Felicia zu suchen. Es gab zwei oder drei von einer rundlichen, hübschen Schwarzen mit verschiedenen Freunden. Dann war da noch ein Bild, bei dem es sich wohl um ein Familienfoto von Felicia als Kind handelte mit einem gemischtrassigen Elternpaar. Der Mann und die Frau hatten die Arme umeinander gelegt und drückten das kleine Mädchen zwischen ihnen an sich. Sie wirkten so glücklich und verliebt. Falls es sich dabei um Felicias Eltern handelte, wovon man meiner Ansicht nach mit großer Wahrscheinlichkeit ausgehen konnte, dann musste das Foto ein paar Jahre vor deren Tod aufgenommen worden sein. Außerdem war da noch ein Haufen gerahmter Bilder von Felicia mit einer älteren Frau, die wilde, ungebändigte Dreadlooks hatte. Man sah die beiden schick gekleidet vor einem Theater, in typischer Touristenaufmachung vor dem berühmten Brunnen aus La Dolce Vita in Rom und vor Shakespeares Globe Theatre in London.
»…verbrachte Auslandssemester in Italien und London. Sie hinterließ einer Freundin auf Facebook eine Nachricht, dass sie versucht habe, einen Job an der Junior High zu bekommen, aber sie wollten sie bloß als Aushilfe, also arbeitete sie wieder als persönliche Assistentin. Sie war ganz begeistert von ihrem neuen Job für eine Ärztin. Meinte, die Bezahlung sei super, ihr Boss wirklich nett und dass sie die ganze Zeit zwischen Boston und Chicago hin und her pendeln würde.«
Julian blickte auf, und ich konnte den Schmerz in seinen Augen sehen. Die anderen waren bloß auf der Suche nach Hinweisen, aber Julian machte sich genau wie ich ein Bild von dem echten Menschen, der hinter all diesen Informationen steckte.
»Scheiße«, hörte ich Anyan fluchen. »Wir müssen sie finden. Und zwar heil.«
Ich sah ihn blinzelnd an, überrascht von der Heftigkeit seiner Stimme. Offensichtlich machte auch er sich Sorgen um die junge Frau.
»Ja, finden wir sie«, warf Graeme mit seiner schönen, fiesen Tenorstimme ein, womit er den Moment allerdings ruinierte und mir vor Grauen ein kalter Schauder den Rücken hinunterlief. Graeme jagte mir noch mehr Angst ein als Jimmu, eine Tatsache, die ich nie für möglich gehalten hätte. Der Naga war ein Killer gewesen, aber dem Elb hier traute ich ohne weiteres zu, dass er dafür sorgte, dass seine Opfer so lange wie möglich am Leben blieben. Und zwar schreiend.
Ich fragte mich, ob meine eigenen, leider viel zu wenig genutzten Kenntnisse der englischen Literatur sich hier vielleicht
als nützlich erweisen könnten, und bahnte mir einen Weg zu dem umgestürzten Bücherregal, um einen Blick auf Felicias Lektüre zu werfen. Da waren eine ganze Reihe von Anthologien, viele Klassiker und jede Menge Titel aus dem gängigen Literaturkanon, alles in Form preiswerter Taschenbücher, wie sie eben an den Schulen üblich waren. Es gab keine anspruchslose oder typische Unterhaltungsliteratur und kaum etwas, das nach Neunzehnhundert geschrieben worden war, abgesehen von ein paar hochwertigen gebundenen Ausgaben von Edie Thompson, einer zeitgenössischen afroamerikanischen Schriftstellerin, die in akademischen Kreisen als Literaturkritikerin und Romanautorin hoch geschätzt wurde, aber noch nicht den Durchbruch in die Populärliteratur geschafft hatte.
Ich hob eines
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