Januarfluss
Ach⦠« , seufze ich. » Vielleicht fragst du das besser deine Verlobte. «
Lu richtet sich auf. Er verheddert sich in dem Knäuel aus Netzen und zupft und zerrt eine Weile daran herum, bis er sich befreit hat. Dann fährt er sich mit den Fingern durch sein Haar, das vom Schlafen in alle Richtungen absteht und ihn wirklich niedlich aussehen lässt.
» Hör zu « , beginnt er.
» Nein, hör du zu « , unterbreche ich ihn. » Du hast dein Leben, deine Leute, deine Verlobte. Und ich habe meinen Platz ganz woanders. Wir haben uns einer kleinen Verirrung hingegeben und wir sollten sie zügig vergessen. «
» Das war es für dich? Eine Verirrung? «
Ich nicke. Natürlich war es viel mehr als das, aber das werde ich ihm niemals gestehen. Es war eher eine Offenbarung für mich. Zum ersten Mal wurde ich so geküsst, dass es sich richtig anfühlte. Und zum ersten Mal habe ich gespürt, was Verlangen bedeuten kann. Es ist ja nicht zum ÃuÃersten gekommen, aber meine Lust ist geweckt worden. Erst jetzt kann ich nachvollziehen, warum die Menschen so viel Aufhebens darum machen. Die Warnungenâ von den Eltern, von den Padres oder den Lehrernâ sind ernst zu nehmen, denn die körperliche Begierde ist ein Trieb, der nur schwer zu beherrschen ist. Ich habe das immer für übertriebenes Geschwätz gehalten, doch ich habe ja gestern einen Eindruck davon bekommen, wie schwach ich sein kann und was für ein leichtes Opfer meiner erwachten Sinnlichkeit ich bin.
» Du kannst nicht nach Hause gehen. Nicht ausgerechnet jetzt, wo wir ein Druckmittel gegen den Schuft in der Hand haben « , holt Lu mich in die Gegenwart zurück.
» Ich kann. «
» Bel, bitte! Nach allem, was du durchgemacht hast, wirst du jetzt doch wohl noch ein paar Tage warten können. Mit dem Brief können wir viel erreichen! AnschlieÃend kannst du ja gern heimkehren und ihn deinen Eltern vorlegen. Es wäre doch unlogisch, jetzt nach Ãguas Calmas zu fahren und danach wieder nach Rio zu kommen. Wir sind jetzt hier, also lass uns auch hier unsere Aufgabe erfüllen. «
» Deine Aufgabe. «
» Oh, nein, es ist auch deine. Oder willst du mir ernsthaft weismachen, dass du das Leid, das Fernando über die Menschen bringt, ruhigen Gewissens mitansehen kannst? Wir haben eine Verantwortung seinen Opfern gegenüber. «
» Ach? «
» Natürlich. Du rennst wie alle anderen in die Kirche und redest über christliche Nächstenliebe, aber wenn es darum geht, diesen Worten Taten folgen zu lassen, kneifst du. Du bist eine Heuchlerin, Isabel de Oliveira, wie alle anderen feinen Leute auch. Ihr seid ja solche Freunde der Schwarzen, und die Sklaverei haltet ihr für etwas, das in unserer modernen Zeit keinen Platz mehr hat. Aber wehe, man muss sich die Finger schmutzig machen. «
Das ist ungerecht. Wie kommt Lu dazu, mich eine Heuchlerin und einen Feigling zu nennen?
» Du machst es dir ein bisschen zu leicht « , sage ich unterkühlt. » Dein Plan, Rosa zu retten, war dumm und unausgegoren. Und nun schiebst du die Schuld dafür mir in die Schuhe. Hätten wir mit vereinten Kräften über eine wirklich schlaue Lösung nachgedacht, wären wir sicher erfolgreicher gewesen. «
» Nun, dann bleib in Rio und hilf mir. Ich bin ja, wie du selbst sagst, allein nicht in der Lage, etwas zu bewirken. Ein dummer Junge wie ich braucht nun einmal die Unterstützung einer brillanten Senhorita. Wir Neger sind ja ohne eure Anleitung zu blöd zum Sch⦠«
Meine Ohrfeige trifft ihn unerwartet und noch bevor er das Unaussprechliche ausgesprochen hat. Ich bin so wütend, dass ich ihn windelweich prügeln würde, wenn ich eine reelle Chance gegen ihn hätte.
Er sieht mich mit heruntergezogenen Mundwinkeln an. » Oh, die Senhorita greift zu den bewährten Mitteln, wenn die Neger nicht spuren, wie? «
» Du hättest die Peitsche verdient « , sage ich, nicht minder herablassend.
Lu verlässt schweigend die Hütte. Vielleicht ist er doch der Klügere von uns beiden, denn er will unseren Streit nicht noch weiter ausarten lassen. Ich sehe ihm nach, verärgert und enttäuscht. Ich fühle mich schrecklich, weil ich auf seine Provokation genau so reagiert habe, wie er es wollteâ und weil seine Anschuldigungen einen wahren Kern enthalten. Wie oft habe ich bei einem blöden Sklaven gedacht, dass er ohne
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