Januarfluss
immer das Recht des Stärkeren. Da wird nicht groà nach amtlichen Papieren gefragt, und nach ein paar Monaten in den Gold-, Silber- und Edelsteinminen sehen die Arbeiter ohnehin zwanzig Jahre älter aus, als sie sind. Lu ist nervös, weil er die Befürchtung hat, dass auch seine Schwester unter den verkauften Menschen ist. Ich fordere ihn auf, nach Bela Vista zu fahren und sich davon zu überzeugen, dass Rosa noch da ist.
Als Lu zurückkommt, berichtet er, dass Rosa zwar nicht verschleppt wurde, dafür aber mindestens zehn andere, darunter auch der misshandelte mordomo. » Hättest du es nur ein wenig länger bei dem Schuft ausgehalten « , wirft er mir vor, » dann hättest du ihn bitten können, ihn auf dieser ⺠Reise ⹠zu begleiten. Und dann wüssten wir, wohin er die Leute gebracht hat, und hätten Einblick in seine undurchsichtigen Geschäftsstrukturen gewinnen können. «
» Ja, und ich hätte den Brief nicht gefunden. «
Lu schweigt. Er weià genau, was sonst noch alles hätte passieren können.
Am Freitag vor Karneval ist es endlich so weit. Lu und ich gehen zum Kontorhaus des Schufts, das zentral zwischen Hafen, Bahnhof und den GeschäftsstraÃen der Innenstadt liegt. So kann Fernando alle Abläufe des Kaffeehandels aus nächster Nähe begleiten, wenn er dies wünscht. Es ist ein elegantes Gebäude, nur ein feines, geprägtes Messingschild gibt Auskunft darüber, wer es bewohnt. Die Büros sind im Parterre, im oberen Geschoss liegt die Privatwohnung. Zum Wohnen ist dies zwar keine ideale Gegend, aber ich schätze, der Schuft hat auf Bela Vista genug Natur und frische Luft, um in Rio darauf verzichten zu können. Anders als andere reiche Leute braucht er hier keinen Garten.
Lu hat sich für seine Verhältnisse recht ordentlich angezogen. Er sieht aus wie ein ärmlicher, aber anständiger Mensch, wie ein junger Büroangestellter etwa oder ein unterbezahlter Steuergehilfe. Er hat sich sogar gekämmt und feste Schuhe angezogen. Ich beobachte ihn von einem Hauseingang aus, der im Schatten auf der gegenüberliegenden StraÃenseite liegt. Wenn Lu nicht innerhalb einer halben Stunde wieder drauÃen ist, so haben wir es vereinbart, rufe ich die Polizei. Aber damit rechnen wir eigentlich nicht.
Ich hatte beim Aushecken des etwas schlichten Plans den Einwand vorgebracht, Fernando könne Lu ja auch töten. Immerhin weià ich genau, zu was der Schuft in der Lage ist, wenn er wütend wird. Aber Lu hat dieses Argument sofort entkräftet: » Er kann mich nicht umbringen. Er braucht den Original-Brief. Und um ihn zu findenâ genau wie dich, denn das wird er sich schnell zusammengereimt haben, dass du den Brief auf Bela Vista gefunden hastâ, braucht er mich lebend. Es kann also gar nichts passieren, du brauchst dir keine Sorgen zu machen. «
Aber die mache ich mir natürlich trotzdem. Ich beobachte, wie Lu eintritt und wie die Tür sich hinter ihm schlieÃt. Dann sehe ich gar nichts mehr. Die Fensterscheiben des Büros werden direkt von der Sonne angestrahlt, sodass sich alles in ihnen spiegelt und man absolut nichts von dem sieht, was im Inneren vor sich geht. Bestimmt sind innen ohnehin die Jalousien heruntergelassen, sodass ich auch ohne Sonnenschein nicht viel erkennen könnte.
Unruhig drücke ich mich in dem Hauseingang herum. Ich verlagere mein Gewicht von einem Fuà auf den anderen, wickele eine rebellische Haarsträhne um meinen Finger, knibbele an einem Hautfetzen am Daumen herum. Je länger Lu in dem Gebäude verschwunden ist, desto mehr steigt meine Anspannung. Ohne es zu merken, beiÃe ich mir die Innenseite meiner Wangen blutig und reibe immer wieder meine Hände an meinem Kleid ab, denn sie sind nass vor SchweiÃ.
Die Zeit vergeht quälend langsam. Von meinem Beobachtungsposten aus sehe ich, schräg über dem Bürogebäude aufragend, einen Kirchturm. Dessen Uhr scheint mir allerdings stehen geblieben zu sein. War es nicht vor einer Ewigkeit schon halb elf? Nein, da sehe ich es: Der Zeiger rückt eine Minute vor. Zehn Uhr einunddreiÃig. Die Uhr funktioniert. Herrje! Kann denn das nicht schneller gehen?
Inzwischen dürfte Lu längst bis zum Hausherrn vorgedrungen sein und ihm den Brief vorgelesen haben. Ich stelle mir Auszüge aus dem Gespräch vor, das die beiden führen.
Lu: Wir beide wissen, was das zu bedeuten
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