Januarfluss
jetzt Lus mitleidigem Blick begegnen.
» Nein, aber geh du nur. Mir ist der Hunger vergangen. «
Er stapft davon und lässt mich nun doch in der Hölle zurückâ einer Hölle aus verletzten Gefühlen und Schuldbewusstsein.
29
Natürlich lässt Lu mich nicht die Nacht allein am Strand verbringen. Irgendwann kommt er zurück, leicht angeheitert und mit einer Fahne, die die ganze Hütte erfüllt. Ich stelle mich schlafend, den Kopf auf den Seesack gebettet. Wo er sich hinlegt, kann ich im Dunkeln nur erahnen. Ich schätze, er versucht, es sich in dem dicken Haufen von Netzen gemütlich zu machen. Seine Gegenwart macht mich nervös und hindert mich am Einschlafen. Ich denke die halbe Nacht darüber nach, wie es jetzt weitergehen soll, mit mir, mit Lu, mit uns beiden. Sein Schnarchen macht mich wahnsinnig, aber fast noch schlimmer ist das schale Gefühl, das dieser unselige Kuss in mir hinterlassen hat und das sich immer wieder vor meine Gedanken schiebt.
Am Morgen habe ich einen Entschluss gefasst: Ich werde nach Hause zurückkehren. Mit dem Brief habe ich den besten Beweis dafür, dass Fernando nichts taugt. Wenn meine Eltern diese verstörenden Zeilen von Dona Margarita lesen, werden sie von ihrer unsinnigen Idee, mich mit dem Kerl zu verheiraten, ablassen. Sollte es um unsere Finanzen wirklich so schlecht bestellt sein, dass ich sogar das Internat verlassen muss, werden wir schon gemeinsam einen Weg hinaus aus der Klemme finden. Nachdem ich nun wochenlang von der Hand in den Mund gelebt habe, macht mir Armut nicht mehr so viel Angst wie vorher. Ich weiÃ, dass es irgendwie immer weitergeht.
Sobald ich wieder in meinem gewohnten Umfeld bin, werde ich Lu ganz schnell vergessen. Er hat keinen Platz in meinem Leben, das erfüllt sein wird von kultivierten Unterhaltungen oder vergnüglichen Musikabenden, von Maskenbällen, anspruchsvollen Büchern und üppigen Mahlzeiten auf Porzellantellern. Silberbesteck und Kristallkelche, Edelsteinschmuck und Miniaturbildnisse in goldenen Medaillonsâ das ist das schmückende Beiwerk meines Lebens, das meinem Dasein Glanz und Anmut verleiht. Für Lu ist es nichts weiter als Beute.
Die ersten Sonnenstrahlen dringen durch die Ritzen der windschiefen Hütte und malen ein Muster aus goldenen Streifen auf Lus Haut. Ich betrachte ihn versonnen. Er sieht viel jünger aus, wenn er schläft. Und viel braver. Doch ich weià ja nun, was sich hinter diesem Jungengesicht verbirgt, ich lasse mich von dem friedlichen Anblick nicht mehr täuschen.
Lu schlägt die Augen auf und sieht mich direkt an. Es ist ein bisschen unheimlich, wie er von einem Moment auf den anderen vom Tiefschlaf zu voller Aufmerksamkeit erwachen kann. Ich kenne das nur von Tieren, von Katzen oder Hunden, die aussehen, als würden sie fest schlafen, bis das leiseste Geräusch sie hochfahren und die Ohren spitzen lässt. Bei Menschen habe ich das noch nie beobachten können, wobei ich zugeben muss, dass ich auch noch nicht allzu vielen Leuten beim Aufwachen zugesehen habe. Meist bin ich ja diejenige, die länger schläft als alle anderen.
Lus Augen haben einen warmen goldenen Glanz. Er sieht mich weiter stumm an und scheint darauf zu warten, dass ich die Initiative ergreife, dass ich irgendetwas sage oder tue. Er will wissen, woran er ist. Na schön, dann soll er es wissen.
» Ich werde nach Ãguas Calmas fahren. Noch heute « , sage ich, bemüht um einen möglichst sachlichen Ton.
» Aber⦠«
» Ohne Wenn und Aber. Ich fahre. Der Brief ist alles, was ich brauche, um meine Eltern davon zu überzeugen, dass Fernando ganz sicher kein guter Ehemann für mich wäre. Ich denke, ich habe lange genug meine Freiheit genossen, wobei von ⺠Genuss ⹠ja eigentlich keine Rede sein kann. Ich habe es satt, mich weiter zu verstecken. Wohin soll das auf Dauer führen? Ich gehöre nach Hause, zu meiner Familie, meinen Freunden. Ich freue mich sogar schon wieder auf die Schule. Es ist mein letztes Jahr dort. «
» Gelernt hast du aber auch in den letzten Wochen so einiges. «
» Natürlich. Vor allem über die Niedertracht der Menschen. « Dabei sehe ich ihn an, als sei er es, der alle Abgründe der menschlichen Seele in sich vereint, alle Boshaftigkeit und Gemeinheit.
» Was soll das? Was habe ich dir getan? « , fragt er freiheraus, was ganz und gar untypisch für ihn ist.
»
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