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Januarfluss

Januarfluss

Titel: Januarfluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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unsere Fürsorge nicht überleben würde? Wie oft habe ich einen Schwarzen mit einem sturen Maulesel verglichen? Bei einem Weißen, der etwas langsam im Kopf ist, würde mir so etwas nie einfallen.
    Draußen scheint die Sonne. Der Sand ist noch dunkel und kühl von dem Regen, der in der Nacht gefallen ist. Das Meer ist aufgewühlt, gigantische Wellen rollen heran und brechen in einem gewaltigen Getöse. Der Sprühnebel hüllt Lus Gestalt ein, verwischt seine Konturen, lässt ihn erscheinen wie eine Gestalt aus einem alten Märchen. Der Junge, der sich im dichten Nebel verirrt hat. Wie passend.
    Er tritt nach Muscheln und Ästen, die die Flut herangespült hat. Aus jeder seiner Bewegungen spricht großer Zorn. Am liebsten würde ich zu ihm hinlaufen, ihn umarmen und küssen. Ich möchte ihm sagen, dass es mir leidtut, und ich würde ihm gern meine widersprüchlichen Gefühle anvertrauen. Aber ich kann mich gerade noch beherrschen. Es führt ja doch zu nichts. Allerdings merke ich, dass ich in meinem Entschluss, nach Hause zu fahren, wanke. Vielleicht hat Lu recht: Ich sollte meine begonnene Aufgabe hier in Rio erst vollenden, bevor ich heimkehre. Andernfalls würde immer das Gefühl an mir nagen, dass ich etwas Gutes hätte bewirken können, es aber aus Trägheit, Angst oder verletzter Eitelkeit nicht getan habe.
    Ich setze mir die Mütze auf, um mein Haar zu verstecken, und schlendere durch den Sand zu ihm. Von Weitem wird mich jeder für einen Jungen halten. Die Kleidung ist verknittert und scheuert auf der Haut. Salz und Sand sind bei meiner abendlichen Dusche nicht ganz abgewaschen worden, es juckt mich wie verrückt.
    Als ich Lu erreiche, tut er so, als hätte er mich nicht gesehen. Er steht frontal vor den heranrollenden Brechern und versinkt in der Betrachtung dieses faszinierenden Spektakels der Wassermassen.
    Â» Zwei Tage « , sage ich.
    Er dreht sich um und schenkt mir das breiteste Lächeln, das ich je bei ihm gesehen habe.
    Â» Dann los. Lass uns keine Zeit verschwenden. «
    Wir gehen zurück zur Hütte und entwerfen einen Schlachtplan.
    Unser erster Schritt wird sein, Papier und Stift zu besorgen, um eine Abschrift des Briefs anzufertigen.
    Mit dieser Abschrift will Lu zu Fernando gehen, von dem wir hoffen, dass er wieder in Rio ist. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, nicht nur, weil sein üblicher Zeitplan dies vermuten lässt, sondern auch, so glaubt zumindest Lu, weil er sich bestimmt schon auf die Jagd nach mir gemacht hat. Ich selbst kann mir nicht vorstellen, dass der Schuft wegen 70Mil- Réis einen solchen Aufwand betreiben sollte. Der Betrag ist für ihn lachhaft niedrig.
    Mit dem Brief als Druckmittel will Lu den Schuft dazu bringen, Rosa freizulassen. Es ist also im Grunde Erpressung, was wir vorhaben, nur dass das, was wir uns zu erbeuten hoffen, nämlich Rosas Freiheit, ihr ohnehin zustünde. Also ist unser » Verbrechen « vermutlich nicht ganz so schwerwiegend. Lu und mir kommt es richtig und gut vor.
    Â» Vielleicht sollten wir zuerst herausfinden, ob das Datum des Briefs zu dem des tödlichen Unfalls von Dona Margarita und Dom Manfredo passt « , schlage ich vor.
    Â» Was gibt es denn da herauszufinden? « , fragt Lu und starrt mich an, als habe er es mit einer Minderbemittelten zu tun. » Vor dem Schreiben des Briefs kann Dona Margarita ja schlecht gestorben sein. Und ob sie einen Tag oder auch ein Jahr danach gestorben ist, tut nichts zur Sache. Im Übrigen haben wir keine Zeit zu verschwenden– ich finde, wir sollten es darauf ankommen lassen. «
    Â» Wäre sie ein Jahr nach dem Verfassen des Briefs gestorben, wäre dieser erstens vollendet und zweitens abgeschickt worden. Außerdem wäre dann das geänderte Testament bei einem Anwalt oder Notar hinterlegt worden. «
    Â» Stimmt. Da ich mir aber ziemlich sicher bin, dass die armen Eltern des Schufts noch im Mai 1885 das Zeitliche gesegnet haben, finde ich, wir sollten es riskieren. Fernandos Reaktion wird uns ja zeigen, ob wir recht haben. «
    Und so machen wir es schließlich.
    Es vergehen allerdings noch ein paar Tage, bevor wir Fernando endlich antreffen, denn er ist verreist. Lu glaubt, dass der Schuft mit einer Gruppe von jungen Schwarzen ins Hinterland gefahren ist, um die » Sklaven « , die laut Gesetz frei sein sollten, an zwielichtige Minenbesitzer zu verkaufen. Fernab der Küste regiert noch

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