Januarfluss
nur im äuÃersten Notfall.
Auch ein Stadtbummel ist nicht möglich, denn ohne Geld und ohne Begleitung kann ich in Rio in kein ehrbares Geschäft gehenâ man würde mich für eine Diebin halten. Und genau das, schieÃt es mir durch den Kopf, bin ich ja auch. Ich habe meine Eltern und meinen Onkel bestohlen. Aber sie haben es doch nicht besser verdient, oder? Genauso wenig kann ich in einem schönen Café einkehren und mir den Bauch mit Törtchen vollstopfen. Meine Freunde kann ich schon gar nicht besuchen, denn es soll ja niemand wissen, dass ich hier bin.
Es gibt nur eines, worauf ich wirklich Lust hätte: wieder in Jungenkleidung zu schlüpfen und unerkannt durch die Gassen zu schlendern. Doch die Gefahr, dass Dona Eufrásia mich sieht, ist zu groÃ. Es ist ohnehin schon ein Risiko, dass ich die Kleider noch besitze. Ich habe sie, verdreckt wie sie waren, zusammengerollt und unter das Bett gelegt. Wenn irgendjemand auf die Idee kommt, dort zu fegen oder einfach nur nachzusehen, dann muss ich mir eine gute Ausrede einfallen lassen. Die kostbaren Ohrringe habe ich in den Hosentaschen verstecktâ kein normaler Mensch wird sie dort vermuten geschweige denn suchen, selbst wenn er die schlammverkrustete Hose entdeckt.
Plötzlich fällt mir doch noch eine sinnvolle Beschäftigung ein. Ich könnte am Kiosk nachsehen, ob in den anderen Zeitungen etwas über mein Verschwinden steht. Ich halte es zwar für beinahe unmöglich, aber wer wei� Seit es die Telegrafenämter gibt, erreichen dringende Botschaften ihre Empfänger sehr schnell.
Plötzlich habe ich es eilig, auf die StraÃe zu kommen.
DrauÃen ist es so grell, dass ich die Augen zusammenkneifen muss. Wahrscheinlich kommt es mir nur vor, als sei es heller als gewöhnlich, weil ich aus dem düsteren Haus komme. Auch die Geräusche erscheinen mir lauter, doch das mag ebenfalls an dem plötzlichen Kontrast liegen. In Dona Eufrásias Haus ist es sehr leise.
Obwohl es höchstens acht Uhr sein kann, ist auf der StraÃe schon jede Menge los. Kein Vergleich zu der sonderbar bedrückenden Sonntagnachmittagsstille von gestern. Einige Läden haben ihre Pforten bereits geöffnet, vor allem Lebensmittelgeschäfte. Ein Schuhputzer pfeift ein Liedchen vor sich hin, ein anderer Bursche zieht einen Karren, in dem stapelweise Brote liegen. Ein schwarzes Kindermädchen schiebt einen Wagen vor sich her, in dem ein brüllendes Baby liegt, und ein junger Mulatte schrubbt die Stufen vor einem SüÃwarenladen. Ein älterer Schwarzer lässt sich von einem groÃen Hund, den er offenbar ausführen muss, durch die StraÃe zerren.
Die Geschäfte, die andere Waren als Lebensmittel führen, öffnen erst später. Ich entdecke einen Laden, in dem es Regenschirme und Spazierstöcke zu kaufen gibt. Ein anderer bietet Kurzwaren an und wirbt in seinem kleinen Schaufenster damit, dass er die gröÃte Auswahl der Stadt an Knöpfen führt. In dieses Geschäft möchte ich nachher gehen, denn mir fällt ein, dass ich Nadel und Faden gebrauchen könnte. AuÃerdem entdecke ich eine Drogerie mit noch heruntergelassenen Gitterläden sowie ein Geschäft, das Mieder und Strumpfwaren führt.
Alles in allem macht die StraÃe, in der ich vorübergehend zu Hause bin, den Anschein bescheidener Rechtschaffenheit und würdevoller MittelmäÃigkeit. Es ist kein richtig armes Viertel, doch es ist auch keines, in dem man elegante Hüte oder erlesenes Porzellan finden würde.
Was ich allerdings ebenfalls nicht finden kann, ist ein Kiosk.
Ich schlendere weiter. Die Luft ist vergleichsweise kühl und riecht sauber. Die Sonne steht noch nicht hoch genug, als dass sie über die Dächer in die StraÃen hineinscheinen könnte, und ich genieÃe meinen Spaziergang im Schatten. Niemand hier scheint sich für mich zu interessieren, alle haben ihre Arbeit und ihre Aufgaben. Oder liegt es daran, dass ich in Rio bin?
Meine Mutter sagt immer, die Cariocas, so heiÃen die Bewohner Rios, seien ein eigenartiger Menschenschlag, sie interessierten sich nur für sich selbst und nichts sonst. Nun, mir soll es recht sein. Je weniger die Leute sich um mich kümmern, desto sicherer bin ich.
Nachdem ich eine Weile gelaufen bin, erreiche ich eine groÃe Avenida. Hier geht es bereits sehr hektisch zu. Die berühmten caraduras, auf Schienen laufende und von Eseln
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