Januarfluss
Die Todesanzeigen. Dann gibt sie mir mit Händen und FüÃen zu verstehen, dass diese Seite die einzige in der ganzen Zeitung ist, die Dona Eufrásia liest.
» Ach? Ja, danke. Sehr interessant. « Ich stehe auf und dränge die Sklavin mit meinem Körper Richtung Tür. Sie soll mich in Frieden lassen.
Doch als ich wieder allein bin, geht mir auf, was Vovó mir damit sagen wollte: Ich brauche keine Angst zu haben, dass meine Zimmerwirtin etwas über mich liest, solange es nicht meine eigene Todesanzeige ist. Nachträglich schüttelt es mich. Ich fürchte mich vor dieser Sklavin, die offensichtlich Gedanken lesen kann.
Nein, rede ich mir gut zu, ich fürchte mich vor gar nichts! Ich straffe die Schultern und beschlieÃe, mich zurechtzumachen und aus dem Haus zu gehen. Welchen Sinn hat es schon, hierzubleiben und Trübsal zu blasen? Wenn ich mehr Zeit als nötig in diesem traurigen Loch verbringe und zu viel nachdenke, dann werde ich am Ende noch schwermütig.
Ich werfe einen Blick in den Spiegel und erstarre. Das ist nicht die Isabel de Oliveira, die ich bis gestern kannte. Das ist kein 15-jähriges verwöhntes Mädchen, mit dem der liebe Gott es besonders gut gemeint hat, weil er ihm Klugheit, Schönheit und Sorgenfreiheit geschenkt hat. Was mir da aus dem Spiegel entgegenschaut, das ist eine junge Frau, die ich nicht kenne. Ich weià nicht einmal, ob sie mir besonders sympathisch ist.
Meine grünen Augen, die ein Verehrer von mir einmal als » Katzenaugen « bezeichnet hat, weil sie leicht schräg stehen, sehen weder strahlend noch verlockend aus, sondern irgendwie hinterlistig. Mein Mund, den ein anderer Verehrer einen » Kussmund « genannt hat, obwohl ich ihm nie gestattet habe, mich zu küssen, dieser Mund also besteht nicht mehr aus einem Paar voller roter Lippen. Er ist vielmehr eine schmale helle Linie, nicht sinnlich und feucht, sondern vertrocknet. Und meine makellose weiÃe Haut, auf die Maria immer so viel Wert gelegt hat? Sie ist nun voller Sommersprossen und zeigt eine leichte rötlich-braune Färbung, was der Gipfel an Vulgarität ist. Feine Damen haben eine Alabasterhaut. Nur Leute, die im Freien arbeiten, sind braun.
Auch mein Kleid sieht nicht gerade vornehm aus, was zum einen daran liegt, dass ich es ohne Marias Hilfe nicht ordentlich schnüren konnte, zum anderen daran, dass ich anscheinend schon ein wenig abgenommen habe. Das Kleid sitzt einfach nicht so, wie es sollte. Nimmt man noch mein struppiges Haar dazu, das ich in Ermangelung einer Bürste nur mit den Fingern gekämmt habe, dann hat man das Bild einer⦠ich weià nicht, einer jungen Frau aus ärmlichen Verhältnissen. » WeiÃes Pack « , wie Maria diese Menschen nennt.
Anstatt mich darüber zu freuen, weil dieses Erscheinungsbild meine Scheinidentität als junges, Arbeit suchendes Kindermädchen stützt, könnte ich schon wieder heulen. Womit habe ich es verdient, dass ich allein und praktisch ohne Geld in dieser schrecklichen Pension hocke, ein karges Frühstück bekomme, keine Hilfe beim Ankleiden habe, Angst vor Sklavinnen und Zimmerwirtinnen habe und⦠Genug! Ich heule nicht, basta. Ich bin jung, noch immer einigermaÃen gut aussehend, ausgeruht und abenteuerlustig. Ich klopfe mein Kleid aus, wische mit einem Zipfel des Handtuchs über meine Schuhe und finde, dass es an der Zeit ist, sich der groÃen weiten Welt zu stellen.
Nurâ was soll ich da? Was soll ich mit meiner Zeit anfangen? Zu Hause könnte ich jetzt einen Ausritt unternehmen oder im Boot auf dem See treiben und vor mich hin träumen. Ich könnte Nachbarn besuchen oder mich mit einem spannenden Buch auf die Veranda setzen. Auch jede Menge nützliche Dinge gäbe es dort für mich zu tun, etwa meinen Kleiderschrank auszumisten oder Klavier zu üben oder etwas für die Schule zu tun. Bei mir kommt eigentlich nie Langeweile auf, weder zu Schulzeiten, wenn ich im Internat bin, noch während der Ferien, die ich meistens auf Ãguas Calmas verbringe.
An einem regnerischen Tag würde ich vielleicht einen Brief an Gustavo formulierenâ was ich ja sogar in dieser scheuÃlichen Kammer tun könnte, hätte ich denn daran gedacht, Briefpapier, Feder und Tinte einzupacken. Und kaufen möchte ich die Schreibsachen nicht. Ich muss mein weniges Geld zusammenhalten, denn die Ohrringe, die schon meine UrgroÃmutter trug, verkaufe ich
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