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Januarfluss

Januarfluss

Titel: Januarfluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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hinunterschlinge. Herrlich! Ein köstlicher, saftiger Kokoskuchen, der genau so klebrig und süß ist, wie ich es mag. Warum habe ich ihn nicht langsamer gegessen? Dann hätte ich länger etwas davon gehabt, anstatt mich jetzt mit einer schlimmen Heißhungerattacke abzuquälen, die der hastige Verzehr des Kuchens ausgelöst hat. Mein Gott, ich könnte mindestens zehn solcher Kuchenstücke essen!
    Es macht hungrig, von morgens bis abends in der Stadt herumzulaufen, wenn man kein bestimmtes Ziel hat. Nichts zu tun ist ziemlich anstrengend. Ich glaube, ich kenne inzwischen alle Schaufensterauslagen, alle Reklametafeln und jeden Baum, der Schatten spendet. Auf jeder Parkbank habe ich gesessen und von jedem öffentlichen Trinkbrunnen getrunken. Außerdem habe ich jede einzelne Kirche in der Innenstadt besucht– nicht zum Beten, sondern weil es darin immer so schön kühl ist.
    Bei meinen Streifzügen habe ich vieles gesehen, was mir früher nie aufgefallen wäre. Ich habe die alten Männer beobachtet, die an der Praça da Constituição Domino spielen, und die Kinder, die am Campo de Sant’Anna den Enten hinterherjagen. Ich sehe Menschen, die vor lauter Einsamkeit die Tauben füttern und mit ihnen reden. In den Kirchen sitzen einige Leute, die stumme Tränen vergießen, und die Eselsstraßenbahnen sind voll mit erschöpften Angestellten, die starr aus den Fenstern schauen und sich ihres traurigen Gesichtsausdrucks nicht bewusst sind.
    Gestern war ich nach meinem stundenlangen Ausflug so müde, dass ich nach dem Essen sehr früh ins Bett gegangen bin. Heute aber habe ich immerhin noch genügend Energie, um mich endlich meiner Näharbeit zu widmen. Ich stelle die Petroleumlampe auf den Tisch und hole mein neu gekauftes Nähzeug heraus. Ich schließe die Vorhänge, streife mein Kleid ab und setze mich, nur in Pluderunterhose und Leibchen, nah an die Lampe.
    Ich bin nicht besonders gut in Handarbeiten, aber was ich vorhabe, soll auch nicht schön sein. Es muss nur halten. Ich löse den Saum meines Kleides, der an der Kante schon ganz schwarz ist. Pfui Teufel! Ich muss dringend waschen, geht es mir durch den Kopf. Oder mir etwas Neues kaufen– nur wovon? Mein Bargeld geht schneller zur Neige, als ich erwartet hatte. Nun gut, diesem Problem widme ich mich später. Zunächst gilt es, ein Geheimfach in den Saum meines Kleides zu nähen.
    Ich stichele und plage mich mit dem viel zu langen Faden ab, der sich andauernd verknotet. Doch nach einer Weile habe ich es geschafft. Eine Art Innentasche befindet sich nun am unteren Rand meines Kleides, krumm und schief, aber stabil. Diesen Hohlraum will ich mit dem befüllen, was mir auf dieser Welt am wertvollsten ist: mit den Smaragdohrringen und dem Brief von Gustavo.
    In meiner Kammer will ich die Sachen nämlich nicht gern liegen lassen, wenn ich außer Haus bin, und in meinem auffälligen Täschchen mag ich sie auch nicht den ganzen Tag mit mir herumtragen. Allzu viele Diebe tummeln sich da draußen, ich habe schon den einen oder anderen begehrlichen Blick auf meine Tasche erhascht– auf dieses alberne, feine, nutzlose Ding, das mir nun, fern von zu Hause, so fremd erscheint. Das Seidentäschchen ist das reinste Symbol für mein altes Leben: viel Schein, wenig Sein. Oder anders: Es erfüllt nur den einen Zweck, dekorativ zu sein, darüber hinaus ist es für nichts zu gebrauchen. Dasselbe hätte man auch von mir behaupten können, genau wie von allen anderen » Sinhazinhas « . Wäre ich noch so hübsch wie am Tag meiner festa, könnte man es natürlich immer noch behaupten. Denn für was bin ich schon zu gebrauchen? Je länger ich durch die Stadt streife, desto deutlicher merke ich, wie unnütz ich bin.
    Anders als all die Marktfrauen, Kindermädchen, Schneiderinnen, Hutmacherinnen oder von mir aus auch Pensionswirtinnen kann ich nichts, tue ich nichts und will ich nichts. Ich will eigentlich nur, dass dieser Albtraum bald ein Ende hat, dass ich wieder mein altes unbekümmertes Leben weiterführen kann.
    Doch das, fürchte ich, wird so schnell nicht zu verwirklichen sein. Wenn meine Eltern wirklich am Rande des finanziellen Ruins stehen, dann wird das natürlich auch mein Leben beeinflussen. Aber ehrlich gesagt wäre es mir lieber, wir würden alles Land veräußern und die Sklaven in die Freiheit entlassen. Ich kann nicht verstehen,

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